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   Historia interculturalis  | 
  
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 « Fenêtre » Takashi Naraha Clermont-Ferrand  | 
  
   Thema:  Die Alte und die Neue Welt Weltliteratur(en) / Lateinamerika  | 
  
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  update: 30.1.2009  | 
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   1.
  Soutanenkaserne oder heiliges Experiment? Die
  Jesuiten-Reduktionen in Paraguay im europäischen Urteil  von
  Thomas Lange  | 
  
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   Auf den angeschlossenen Seiten:  | 
  
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   2. Exotismus und
  Kulturwandel –  Lateinamerikanische
  Literatur im Deutschunterricht von
  Thomas Lange  | 
  
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   3.
  Übungen in exotischer Phantasie –  Texte
  von Gabriel García Márquez als Material für die Annäherung an eine
  außereuropäische Literatur  von Thomas Lange  | 
  
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   ©
  1982-2009  Thomas
  Lange  | 
  
   Soutanenkaserne oder heiliges Experiment? Die
  Jesuiten-Reduktionen in Paraguay im europäischen Urteil  von
  Thomas Lange Zuerst
  in: Karl Heinz Kohl (Hrsg.): Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschichte
  Lateinamerikas. Ausstellungskatalog der Horizonte '82. Berlin: Frölich und
  Kaufmann, 1982, S. 210-223.  | 
  
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   [1] Zu geographischen Utopien vgl. Ernst Bloch,
  Das Prinzip Hoffnung,3 Bde. (1959),
  Frankfurt/M 1969, 5.873 ff.; zu Kolumbus: Bloch a. a. 0., 5.903 ff.; zu den
  europäischen Reisenden vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der
  Aufklärung, Frankfurt/M 1980, S.
  34.  [2] G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte (posthum 1837), Leipzig o. J., S. 128   | 
  
   Das Amerika der Utopien  Amerika ist der Kontinent der
  Utopien. Zwar wurden, solange die Nachrichten der europäischen Reisenden noch
  ungenau blieben, in alle Erdteile Vorstellungen vom ganz anderen,
  schrecklichen oder glücklichen Leben projiziert: die »geographischen Utopien«
  (E. Bloch) der abendländischen Phantasie schweiften von der Antike bis zur
  Renaissance in alle Weltgegenden, zu allen entdeckten oder (wie der
  Südkontinent Australien) vorerst nur erfundenen Weltteilen aus.[1] In den
  Berichten des Kolumbus flossen dann die antiken Sagen von den »Glücklichen
  Inseln« mit den christlichen Vorstellungen vom »Irdischen Paradies« zusammen.
  Auf der rund gewordenen Erde schien jenes - westwärts vermutete und dieses -
  östlich gesuchte - Ideal in der Neuen Welt »Amerika« konkretisierbar zu
  sein. Doch nach der restlosen Zerstörung und Plünderung der Reiche in Peru
  und Mexiko blieb vom gesuchten Eldorado nur ein gelegentlicher Gold-,
  Kautschuk- oder Ölrausch übrig. Aber dafür rückte die Idee mehr in den Vordergrund,
  die nicht zu findenden, weil nicht vorhandenen Paradies-Utopien aus eigenen
  Kräften in jener »Neuen Welt« selbst zu errichten. Anderen Erdteilen wandte
  man sich mit diesen Gedanken kaum zu. Afrika war bis zum Ende des 19.
  Jahrhunderts weithin unbekannt und vor allem abweisend; von Europäern wurden
  allenfalls Küstenstationen besetzt. Auch Asien mit seinen alten, z. T. nicht
  weniger abweisenden Kulturen war kein Experimentierfeld für europäische
  Träume vom idealen Staat. Amerika aber schien »tabula rasa« zu sein, und zwar
  sowohl der Raum wie die Menschen, deren eigene Anläufe zu entwickelteren sozialen
  Formen »allmählich an dem Hauche der europäischen Tätigkeit untergegangen«
  waren, wie der Philosoph Hegel kühl resümierte. [2] Ideale Staaten
  wurden von ihren vorsichtigen Erfindern meist im Nirgendwo angesiedelt (so z.
  B. die der Gattung den Namen gebende Utopia (1516), was übersetzt heißt:
  »Nirgendland«, des englischen Lordkanzlers Thomas Morus). Amerika blieb der
  Kontinent, wo solche an einem Ideal orientierte Gründungen die Realität
  fanden, in der sie entstehen konnten, aber auch sich verändern mußten. Die
  »Vereinigten Staaten von Nordamerika« sind das wirksamste, mächtigste und
  langlebigste Beispiel dafür; die vor einigen Jahren im Urwald Guyanas im
  Massenselbstmord geendete Sektengründung des US-Amerikaners Johnson ist das
  düsterste. Die Jesuiten-Reduktionen des 17. und 18. Jahrhunderts in Paraguay
  sind mitsamt ihren tatsächlichen und ideologischen Nachwirkungen ein weiteres
  herausragendes Beispiel solch einer utopischen Gründung.   | 
  
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   [3] German
  Arciniegas, Kulturgeschichte
  Lateinamerikas (Buenos Aires
  1965), München 1960, S.198 ff., 434; Mark Münzel, Indianer in Paraguay - ein Überblick, in: pogrom, Heft 49, 1977: »Paraguays Indianervälker«, 5.44-61,
  hier: S. 44 f.; vgl. als neueste Publikationen hierzu: Philip Caraman, Ein
  verlorenes Paradies (London 1975),
  München 1979 und Heinrich Krauss / Anton Täubl, Mission und Entwicklung. Der Jesuitenstaat in Paraguay. Fünfteiliger Kurs im Medienverbund,
  München 1979.  [4] Ich folge Münzel. a.
  a. 0.; Gustav Otruba, Der Jesuitenstaat
  in Paraguay. Idee und Wirklichkeit. Wien 1962; Louis Baudin,
  Une theocratie socialiste: L'etat jesuite
  du Paraguay, Paris 1962; Robert
  Lacombe, »Une plainte indienne internationale au XVIII< siecle: La fin des
  bons sau vages«, in: L'Ethllografie, Nr.
  5, 60-61, Jg. 1966/7, S. 102-122.  | 
  
   Bemerkens- und erinnernswert
  sind diese Reduktionen aus mehreren Gründen: einmal sind sie ausnahmsweise ein
  »Hauch europäischer Tätigkeit«, der den Eingeborenen zum Leben und nicht (wie
  üblich und von Hegel umschrieben) zum Sterben verhalf; sie bewirkten, daß Hunderttausende
  von Indianern vor Elend und Tod in Zwangsarbeit für spanische und
  portugiesische Herren verschont blieben; und wenn heute in Paraguay als
  einzigem Staat Südamerikas eine Indianersprache, das Guarani, die Verkehrssprache
  der Bevölkerungsmehrheit ist, dann ist das eine Spätwirkung der jesuitischen
  Missionspolitik, die Indianer in ihrer eigenen Sprache zu bekehren; eine
  andere Spätwirkung sind aber die isolationistischen Tendenzen des Staates
  Paraguay, denn schon die Jesuiten wollten mit dieser Sprache ganz gezielt
  eine Schranke zwischen Indianern und Weißen errichten; bemerkenswert und
  ungewöhnlich ist ebenfalls, mit welcher Heftigkeit von den Aufklärern des
  18. Jahrhunderts bis zu den Schriftstellern, Soziologen und Anthropologen
  des 20. Jahrhunderts darum gestritten wurde, wie - positiv oder negativ,
  vorbildlich oder abschreckend - denn nun diese Indianermissionen zu bewerten
  seien. [3] Begonnen hatte alles aus praktischen Notwendigkeiten.[4] Nach den
  Eroberungszügen des 16. Jahrhunderts, in denen die Ebenen Südamerikas mehr
  oder weniger nur Durchgangsgebiet für die goldhungrigen Raubexpeditionen nach
  Peru und anderen vermeintlichen Goldländern waren, begann die spanische Kolonialverwaltung,
  die sich allmählich niederlassenden Siedler zu organisieren. Diese sahen sich
  anfänglich vor allem als Erben der Konquistadoren und waren wenig
  interessiert an eigener Arbeit als Bauern, Kaufleute oder Handwerker; die
  spanische Kolonialverwaltung förderte diese Haltung aus ganz anderen Interessen.
  Sie verbot den Siedlern selbständigen Handel und die Fabrikation von Gebrauchsgütern,
  weil der absolutistische spanische Staat nach merkantilistischen Grundsätzen
  allein daran interessiert war, Edelmetalle und landwirtschaftliche Produkte
  bei sich einzuführen und dafür mit seinen Manufakturwaren die Kolonien zu
  beliefern. Die Ureinwohner des Kontinents bekamen in diesem System eine
  wichtige Funktion: die des Arbeitstiers, auf dessen Rücken das System getragen
  wurde. Soweit die Indianer nicht direkt als Arbeitskräfte in den königlichen
  Gold- und Silberminen verschlissen wurden, lieh der König sie dorfweise als
  »encomienda« (Schutzgut) einzelnen Siedlern aus. In diesem quasi-feudalen
  Kommenden-System hatten die Indianer ihrem »encomendero« Abgaben und vor
  allem Arbeitsdienste zu leisten. Um allzu brutale Ausbeutung zu verhindern,
  erließ die Kolonialverwaltung zahlreiche In dianerschutzgesetze und
  verpflichtete zugleich die »encomenderos« zum Schutz und zur
  Christianisierung der Indianer.   | 
  
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   Die ersteren wurden weitgehend
  unterlaufen, das zweite - milde formuliert - sehr vernachlässigt: sobald
  wandernde Franziskaner- oder Dominikaner-Mönche eine Indianergruppe getauft
  hatten, zogen sie weiter und überließen sie einer wenig christlichen
  Ausbeutung, der sich viele Indianer denn auch durch Flucht entzogen. Andere
  Stämme im Chaco-Gebiet, insbesondere in den Regionen nördlich von Buenos
  Aires, konnten sich gewaltsam gegen alle Einbindungsversuche wehren. Mit
  Militärexpeditionen holten sich manchmal die spanischen oder portugiesischen
  Siedler als Kriegsgefangene, was sie an indianischen Arbeitskräften
  beanspruchten. Doch blieb dies ebenso unsicher, wie der Schutz vieler Siedlungen
  vor sich wehrenden Indianern in diesem Gebiet. Das war die Lage zu Beginn
  des 17. Jahrhunderts.  Vereinfacht gesagt hieß die
  Aufgabe, die Indianer und die Siedler voreinander zu schützen und dennoch die
  Produktionskapazitäten der Kolonie zu erhalten. Die Jesuiten lösten diese
  Aufgabe, indem sie Indianer als eigenständige Produktionsgruppen
  organisierten. - Diese Darstellung spitzt die Probleme absichtlich auf den
  ökonomischen Aspekt zu, aber so lassen sich die entstehenden Konflikte und
  auch das Ende der Reduktionen am besten verständlich machen. Weitgehende
  Anpassung an die Lebensgewohnheiten der Indianer, effiziente ökonomische
  Organisation und politische Bindung an die Zentralmacht waren die Gründe für
  Erfolg wie für das schließliche Ende der Reduktionen.   | 
  
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   [5] Otruba,
  a. a. 0., S. 118   | 
  
   Zur
  Geschichte und Organisation der Jesuiten-Reduktionen  Die Jesuiten, die anfangs unter den Missionaren in
  Lateinamerika die kleinste Gruppe stellten, ergriffen Ende des 16.
  Jahrhunderts die Chance, mit Hilfe der königlichen Verwaltung zum erfolgreichsten
  Missionsorden zu werden. Ausgehend von dem für den Orden der Societas Jesu
  kennzeichnenden Prinzip der »Akkomodation«, also der weitestgehenden
  Anpassung des Missionars an die Lebensumstände des zu Bekehrenden, bauten die
  Jesuiten das (schon von anderen Orden genutzte) Prinzip der Einrichtung
  dauernder Missionsstationen zur Perfektion aus. Sie begnügten sich nicht
  damit, die Indianer in Reduktionen, d. h. feste Pfarrdörfer, wo sie »ad
  ecclesiam et vitam civilem essent redueti«[5] (zum kirchlichen und
  zivilisierten Leben hingeführt werden sollten) zu sammeln, sondern gingen
  mit der für sie eigentümlichen rationalen, wissenschaftlichen, erfolgsorientierten,
  zentral gelenkten und überwachten Planung daran, das Leben der Indianer dort
  zu organisieren.  Nach dem Vorbild der Wirtschaftsordnung des Inkareiches
  verfaßte der Jesuiten-Provinzial Diego de Torres, der in den Anden von
  diesem System gehört hatte, Instruktionen, denen gemäß die erste (1609) und
  mehr oder weniger modifiziert dann alle weiteren Reduktionen eingerichtet
  wurden. Die Missionare waren fortan für die geistliche und weltliche Betreuung der Indianer
  verantwortlich. Sie hatten ihre Sprache zu lernen und bekehrten und
  belehrten sie, teilten die Arbeit auf den privaten wie auf den gemeinschaftlichen
  Feldern ein, sorgten für die Kranken und verteilten Werkzeuge und Kleidung.
  Recht anschaulich ist die Schilderung des Paters Escadon:   | 
  
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   [6] Zit. n. Otruba, a. a. 0., S. 146ff.  | 
  
   »Die weltliche Regierung hängt auch fast gänzlich von
  den Pater Pfarrern ab, eben sowohl oder noch mehr als die geistliche. Ich sage
  den Pater Pfarrer, denn welche solches nicht, sondern nur Gehülfen sind,
  mischen sich in das Weltliche der Mission fast gar nicht. Sie helfen aber
  doch, so viel sie können dem Pater Pfarrer in einigen Geschäfften, wenn es
  Zeit und Nothdurft erheischen; und solche Fälle eräugnen sich, wie man leicht
  gedenken kann, oft genug. Diese weltliche Regierung übernahm die
  Gesellschaft von Anfang an, und führet sie fort, denn ohne selbige würde
  gewiß die geistliche~Regierung nicht bestehen können. Und da sie selbige übernommen
  hat und dazu verpflichet ist (es sey aus Liebe oder aus Gerechtigkeit), so
  ist sie mittlerweile sie selbige besitzet - gehalten, ihre Pflicht zu
  erfüllen. Die Erfahrung lehret auch, daß die Indier
  dazu ohne Leitung der Jesuiten Väter unfähig sind. Denn nach der Wahrheit
  und ohne die mindeste Vergrößerung hat in der Allgemeinheit keiner dieser
  Leute mehr Fähigkeit, Verstand und Beurtheilung als wir in Europa bey Kindern,
  welche lesen und schreiben lernen, wahrnehmen, und welche ja allerdings
  nicht im Stande sind, sich selbst zu regieren. Daher passet sich der Name
  >Kinder mit Bärten<, welchen ihnen einige zu geben pflegten, sehr gut
  auf diese Leute. Jeder Flecken hat seinen Bürgermeister, welchen sie unter
  der Leitung des Paters, mit welchem sie bey ihrer Wahl zu Rathe gehen, wählen.
  [ ... ]  Diesen Bürgermeistern, A1caldes und den andern
  obrigkeitlichen und Gerichtspersonen erweisen die übrigen alle Ehrfurcht, so
  lange sie diese Aemter bekleiden, ob wohl hernach alle wieder gleich sind.
  Der Bürgermeister führet zum Zeichen seiner Würde
  ein Rohr oder Stab und die A1caldes ihre Ruthen. Diese drey besprechen sich
  nach der Messe mit dem Pater Pfarrer über die Vorfälle bey der Regierung des
  Volkes, es seyn rechts- oder ökonomische Sachen; und sie statten ihm Bericht
  ab, wenn sie in voriger Nacht jemand ins Gefängnis oder nach dem Castiguazu
  gebracht haben, und warum solches geschehen sey. Und hier wird gleich entschieden,
  ob der Gefangene, es sey Mann oder Frau, noch andre Strafe haben soll, oder
  ob er los zu lassen sey, und frey und ohne Kosten nach Hause gehen könne, wie
  zum öftern geschieht. Hiernächst sagt ihnen der Pater, wie das Volk an dem
  Tage zu vertheilen sey: ob sie, jedweder für sich selbst oder für die
  Gemeinheit arbeiten sollen; und dies geschieht, so wie bey uns in einer wohleingerichteten
  Familie jeden Tag das gethan wird, was der Hausvater befiehlet.  Um sich hievon einen deutlichern Begriff zu machen, ist
  anzumerken, daß alle diese Missionen, und zwar jedwede derselben aus vielen
  Cazikschaften oder Stämmen bestehe, so wie man sie beym Anfange ihrer
  Bekehrung zu jeder Mission gesammlet hat. Und so sind in einigen Missionen
  zwanzig, ja dreyßig Caziken. Selbige haben mit den Leuten ihres Stammes um
  den Flecken herum ihre angewiesenen Ländereyen, viele oder wenig, in dem
  Verhältnis, wie die Cazikschaften oder Stämme groß oder klein sind. Und in
  diesem Bezirk hat ein jeder sein Stück Land, worauf er seinen Mais, seine
  Bataten, Mandiocas, Hülsenfrüchte usw. säet; so daß er aus Mangel am Lande
  niemals unterlassen darf zu säen, was er will, ohne genöthiget zu seyn, Land
  in der Gerichtsbarkeit eines anderen Stammes zu suchen. Diese Aecker so wie
  alle übrige Ländereyen der Gerichtsbarkeit jeder Mission gehören ihrer
  Gemeinheit zu, und kein Einwohner hat mehr als Nutzung davon; und also verkaufet sie auch einer dem andern nicht. Dasselbige
  gilt auch von den Häusern, welche sie in dem Flecken bewohnen. Der Flecken
  ist auch in Cazikschaften abgetheilet, in einer oder zwey Straßen wohnet ein Cazik mit seinem Stamme, und in anderer Straße
  wohnet ein anderer mit den seinen. Alle diese Häuser führet
  die Gemeinheit auf, bessert sie, wo es nöthig ist, aus, und bauet sie wieder
  auf, wenn sie verfallen.  Um den Flecken herum und in seiner Nachbarschaft sind
  von besagter Vertheilung einige große Stücke Land ausgenommen und für die
  gemeinheitlichen Aussaaten, wovon ich bereits geredet habe (selbige werden
  von dem jungen Volk und den Kindern bearbeitet und bestellet), bestimmt.
  Diese Aecker werden mit Mais, etwas Waizen und viel Baumwolle bestellt,
  wovon alles Volk gekleidet wird. Zur Zeit der Bestellung der Aecker und der
  Erndte verrichten auch alle Männer zwey oder drey Tage in der Woche andere
  Arbeiten, deren die Gemeine bedarf, als Häuser auszubessern oder aufzubauen,
  Holz zu fällen usw. Die andern Tage arbeitet jeder für sich allein auf seinen
  eigenen Aeckern, wozu die Gemeinheit einem jeden sein Paar Ochsen hergiebt,
  wenn er es verlanget, nur mit der Bedingung,
  selbige, wenn er ihrer nicht mehr bedarf, wieder abzuliefern. Dies leistet
  er gemeiniglich, bisweilen aber schlachtet er auch einen oder alle beyde ab
  und läßt sich ihr Fleisch wohl schmecken. Er wendet alsdenn vor, sie hätten
  sich verloren und bezahlet diesen Verlust mit einem Rücken voll Schlägen,
  welche ihm wie einem Kind gegeben werden, damit er nicht ein andermal das
  zweyte Paar Ochsen, welche man ihm aufs neue giebt, wieder verliere.  Die Tage, an welchen die Männer für die Gemeinheit
  arbeiten, arbeiten ihre Weiber auch für die Gemeinheit, nicht auf dem Felde,
  sondern in ihren Häusern, da sie Baumwolle spinnen, welche ihnen nach der
  Messe abgewogen ausgetheilt wird, und sie liefern auch das Garn vor der Nacht
  nach dem Gewichte wieder ab.  [ ... ]  Mit diesen benannten gewebten Zeugen werden alle Knaben
  und Mägdchen zweymal des Jahres gekleidet und alle Männer und Weiber einmal. Hierzu
  werden gewisse Tage anberaumt, und dem Volke wird es bekannt gemacht, damit
  ein jeder in seiner Ordnung komme, seine Kleidung oder das Stück dazu
  abzuholen, welches bey ihm zurecht gemacht wird.
  Einen Tag kommen also alle Knaben, einen andern alle Mägdchen; einen andern
  die Männer und einen andern die Weiber [ ... ] Auf gleiche Weise und in eben
  der Absicht werden sie auch nach der Rolle und Cazikschaft aufgerufen,
  jedesmaL wenn Fleisch ausgetheilet wird, welches dreymal in der Woche zu
  geschehen pflegt. Jeder Flecken hat daher sein Weide- und Trifft-Hornvieh,
  worüber Hirten gesetzt sind, welche so viel Stück abgeben, als das Volk zum
  Unterhalt bedarf, mehr oder weniger, nachdem die Mission groß oder klein ist,
  und so wie der Mangel an anderen Lebensmittel größer oder geringer ist. Zu
  Zeiten ist dieser Mangel so groß, daß man kaum etwas anders als Fleisch hat,
  und alsdenn ist man genöthiget, es alle Tage und in Menge auszutheilen, und
  denn müssen des Tages zwölf, zwanzig, ja wohl dreyßig Kühe geschlachtet
  werden.  Für die Kranken wird täglich in dem Hause und der Küche
  und der Jesuiten Väter das Essen zubereitet. Die Krankenwärter der Mission
  müssen alle Morgen dem Koch anzeigen, wie viel Kranke im Flecken sind, und
  für sie insgesammte, es mögen zufällige oder chronische seyn, wird das Essen
  veranstaltet, so daß jedweder eine gute Schüssel Fleisch und ein gutes Stück
  Waizen-Brod bekommt.  Messer, welche sie beym Essen und in anderen Fällen
  brauchen, werden ihnen alle Jahre durch neue ersetzet. Alle Männer nämlich bekommen
  Messer, wie auch einen Keil oder Beil zum Holzhauen u. s. w. Verlieren sie
  sonst in der Zwischenzeit ihr Messer oder Keil so giebt man sie ihnen abermal
  und kommen sie ihnen zu Schaden, so läßt man es ihnen in der Schmiede wieder
  zurechte machen, eben so wird es in Ansehung des Zügels ihrer Pferde u. s.
  w. gehalten. Nadeln, welche sie Ynque oder »Dorn mit Loch« nennen, werden
  Jungen und Alten, Männern und Weibern ausgetheilt. Aus ein paar Nadeln machen
  auch Erwachsene viel; und verlören sie selbige nicht so häufig, so könnten
  sie ganz damit bedecket seyn. Auch theilet man unter sie bald an diesen,
  bald an jenen weiße Medaillen, Scheeren u. s. w. aus, so wie man Vorrath davon
  hat; und an die Weiber insonderheit Mbois oder gläserne Corallen von
  mancherley Farbe, welche ihnen statt Perlen und Diamanten dienen, womit sie
  sich und ihre Töchter schmücken. Die wollenen Zeuge, welche die Procuratores
  mit zu schicken pflegen und die von verschiedener farbe sind, werden an Indier,
  welche sich durch Verdienste hervorgethan haben, ausgetheilet, als an die
  Magistratspersonen, Caziken und andere Aufseher und brave Leute u. s. w. Die
  Musikanten bekommen auch davon, und hieraus wird die Kleidung der Tänzer
  gemacht. An gewissen feyerlichen Tagen erscheinet der ganze Magistrat oder
  doch die Vornehmsten desselben in aus diesem Zeuge nett gemachter spanischen
  Tracht, welches eben so viel als wenn man in Spanien den Kragen anlegt. Nach
  geendigter Festlichkeit aber werden diese Magistratskleider wieder ins
  Magazin zur Verwahrung abgeliefert, bis zu einer andern Gelegenheit, so wie
  die Tänzerkleider.«[6]  | 
  
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   So wirksam und
  zweckmäßig diese Organisation auch war: erfolgreich und für die Indianer
  attraktiv wurde sie vor allem deshalb, weil die Jesuiten ihre Reduktionen
  durch königliches Privileg unabhängig vom Kommendensystem halten konnten, d.
  h. ihre Indianer waren vor der Zwangsarbeit für die weißen Siedler geschützt.
  Die Jesuiten machten die Indianer aber nicht nur seßhaft, sondern zivilisierten
  sie auch. Was das praktisch bedeutete, schildert naiv und plastisch einer
  der (recht zahlreichen) österreichischen Patres, Anton Sepp:   | 
  
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   [7] Antonii Sepp und Antonii Bähm, der
  Societät Jesu Priestern Teutscher Nation Reiszbeschreibung,
  wie dieselbe am Hispanien in Paraguariam kommen ... Nürnberg 1697, pag.
  320-33z; zit. nach Otruba, a. a. 0., S.40-43   | 
  
   »Zu Morgens, eine Stund vor Anbrechung des
  Tags, wecket mich mein Indianer Büblein mit Namen Franciscus Xaverius, sein
  Gesell heißet Ignatius, auf. Er aber wird von dem Sacristan und dieser vom
  krähenden Kucker-Hahn aufgeweckt: zündet mir in meinem Zimmerlein die
  Inschlicht-Kertzen an ....  Nach Besuchung der Kranken visitire ich unsere
  Officinas: Erstlich gehe ich in die Schul der kleinen Indianer-Büblein, so
  lesen und schreiben lernen. Die Mägdlein anstatt dessen lernen spinnen,
  stricken, nähen. Gibe ihnen die Lection, examinire selbige. Darauff gehe ich
  zu denen Musicanten, höre ihr Gesang, jetzt die Discantisten, deren ich 8,
  Altisten deren ich sechs, Tenoristen ohne Zahl, Bassisten 6 habe Nachdem
  blasen die 4 Trompetter, 8 Schallmeier, 4 Cornetisten auch ihre Lection. [
  ... ] Einen anderen Tag nimme ich die Tantzer zu Handen, lehre sie einige
  Täntz, wie wir in denen Comedien zu haben pflegen und in Hispania an alle
  hohhe Feste in der Kirchen gehalten werden .. [
  ...]  Nachdem ich diese, wie gesagt, sambt denen
  Musicanten instruiret, visitir ich die andern Werckstätt, als die Brenn- und
  Ziegel-Oeffen, die Mühl und Brod-Banck, die Schmitten, Schreinerey und
  Zimmerleuth. Siehe, was die Bildhauer schnitzeln, Mahler mahlen, Weber
  wircken, Drechsler drehen, die Stricker strikken. Die Metzger schlachten
  täglichen, nachdem das Volck oder Dorff groß, 15 bis 20 Kühe. Die Indier
  essen keinen Kopff, Fuß, Ingeweyd, Schweiß oder Blut, Leber, Lungen, Fatzen,
  sondern das pure Fleisch. Wann mir Zeit übrig, gehe ich in Garten, siehe, ob
  die Gärtner ansäen, Pflantzen wässern, jäten, grasen. Der beste aus den
  Discantisten leset mir über Tisch ein Capitel aus der
  Heil. Schrifft latei-  nisch; alsdann aus der Legent der Heiligen
  spannisch. Ein anderes Büblein zu End das Martirologium oder Calender der
  Heiligen, so aff jeden Tag fallen. 6 andere Büblein, so stets bey mir im Haus
  wohnen, dienen zum Tisch. Einer träget auff, der andere ab, einer holet das
  Wasser aus dem Fluß, andere butzen das Liecht. Dieser träget das Brod auff,
  jener bringet Früchte aus den Garten. Alle seyn barfuß,
  stehen mit entdeckten Haupt da gantz züchtig, gleich denen Novizen, auf alle
  Augen-Wink bereit, expedit und hurtig. Nach meinem Tisch-Essen gemelte
  Kinderlein giebe ihnen allezeit ein gutes weißes
  Stuck Brod, so ihnen über alles offtermahlen ein wenig Honig zum Schlecken,
  Fleisch genug. [ ... ] Um halbweg 1 Uhr beten wir in der
  Kirchen aller Heilgen Litaney mit obgemeldten Kindern. Alsdann bis auf 2
  Uhr hab ich Zeit für mich, etwas zu arbeiten. [ ... ]  Umb 2 Uhr giebet man ein Zeichen mit der
  großen Glocken zur Arbeit. Gehet dann wiederum das Visitiren der Werkstätt an.
  Gehe abermals zu denen Kranken, tröste sie und
  siehe, was ihnen mangelt. Alsdann um 4 Uhr halte ich Kinderlehr, bete mit dem
  Volck den Rosen-Crantz, darauf die Litaney und mache mit ihnen überlaut Actum
  Contritionis, Reu und Leid über unsere Sünd. Nach diesem begrabe ich die
  Todten, so fast täglich geschicht. Alsdann bete meine priesterlichen
  Tag-Zeiten, des andern Tages Matutinum et Laudes. Umb 7 Uhr esse ich zu Nacht.«[7]  | 
  
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   [8] Otruba,
  a. a. 0., S. '33, 143 f.; Arciniegas, a. a. 0.,
  5.295 f.   | 
  
   Die Kulturleistungen der musizierenden, schreibenden, webenden
  und Kirchen bauenden und auschmückenden Indianer waren beachtlich, vor allem
  wenn man sie gegen das elende Dasein unter der Peitsche der »encomenderos«
  hält. Noch beachtlicher aber waren die wirtschaftlichen und sogar
  militärischen Erfolge, die die Reduktionen erzielten. Bis zur Mitte des 18.
  Jahrhunderts waren, weit über das engere Gebiet um den Parana - und
  Uruguay-Fluß hinaus, über dreißig Reduktionen errichtet worden, in denen
  150000 bis 200000 Indianer lebten. Sie waren von den weißen Siedlern, nicht
  aber untereinander isoliert: neben der Selbstversorgung der Missionen
  wickelte der Orden einen gewaltigen Handel mit den Landesprodukten (yerba-Tee
  und Tierhäuten vor allem) ab, von dem die weißen Siedler ausgeschlossen
  blieben. Die Reduktionen blieben als Wirtschaftsgebiet abgeriegelt;
  Arbeitskräfte, yerba-Plantagen, Äcker, Weiden und Vieh existierten in
  Gerüchteweite von den spanischen Ansiedlungen, die aber vom so nutzbar
  gemachten Wirtschaftspotential nichts hatten. Der Waren- und Geldstrom floß
  an ihnen vorbei, nur der König erhielt einen mäßigen Kopfzins. Die Siedler
  begannen, an verborgene Goldminen und Schätze zu glauben und daran, daß die
  Jesuiten ihnen das dringend zum Aufbau eigener Kapazitäten gebrauchte Kapital
  vorenthielten.  Zur weiteren
  Feindschaft der Siedler gegen die Jesuiten trug bei, daß sie die Indianer
  zwar pazifiziert, aber nicht entwaffnet hatten. Gegen die plündernden
  Sklavenjäger aus Sao Paulo (die Paulistaner »bandeirantes«) hatten die
  Indianer unter der Leitung der Jesuiten sich zuerst durch Flucht (1632 zogen
  12000 Indianer über 1000 Kilometer weiter in Sicherheit), schließlich aber
  auch durch bewaffneten Widerstand geschützt. Das königliche Verbot zum Waffenkauf
  umgehend, hatten die Jesuiten in den Reduktionen selbst Waffen hergestellt,
  und 1641 schlugen 4000 von Jesuiten geführte Guaraniindianer 400
  Paulistaner, die von 2700 Tupi-Indianern unterstützt wurden. Mehrmals
  besiegten Reduktionstruppen aber auch nicht-pazifizierte Indianer und
  retteten spanische Siedlungen. Auch im Konflikt der spanischen Krone mit den
  portugiesischen Truppen waren die Reduktionstruppen siegentscheidend (z. B.
  1660 und 1704 bei der Eroberung der - Buenos Aires bedrohenden - Festung
  Sacramento). Die Indianertruppen den Jesuiten wurden ein militärisch relevanter
  Faktor; politisch entscheidend war, daß sie sich stets für die Interessen der
  Zentralgewalt, der Gouverneure schlugen. Damit vertieften sie den Gegensatz
  zu den weißen Siedlern, die Freiheit und Unabhängigkeit für Handel und
  Gewerbe - und die Verteilung der Reduktionsindianer an
  "encomenderos" forderten. 1649 und 1735 halfen die Reduktionstruppen
  den königlichen Gouverneuren, die Siedler der Zentralgewalt im fernen Spanien
  zu unterwerfen. Die Revolte der städtischen »comuneros« 1730-35 in Asunci6n
  unter den Anführern Antequera und Mompox war aber schon ein Vorklang auf
  die Unabhängigkeitsbestrebungen des liberalen Bürgertums im 19. Jahrhundert.
  Die »comuneros« billigten sich ein Widerstandsrecht gegen König und
  Gouverneur zu [8] die Jesuiten aber standen treu zur absolutistischen
  Gewalt. Sobald sie diese Treue brachen, verloren sie ihre entscheidende
  Unterstützung. Dieser Ausbruch aus der dienenden Selbstgenügsamkeit fand in
  den 50er Jahren des 18. Jahrhunderts statt.   | 
  
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   Spanien wollte
  seine Grenzen mit Portugal in Lateinamerika regulieren. Die Grenzen wurden
  so gezogen, daß 7 Jesuitenreduktionen ihr wohlbestelltes Land aufzugeben, 30.000
  Indianer eine neue Ansiedlung zu suchen hatten. Sie opponierten auch mit
  Waffengewalt (1751- 56). Zwar waren die Jesuiten erfolgreich, denn der
  Grenzvertrag wurde 1762 annulliert. Doch dieser Versuch, einen eigenen
  politischen Willen zu behaupten, leitete das politische Ende der Reduktionen
  ein. Seit langem auch in Europa verdächtigt, die Aufklärung und den
  Fortschritt zu behindern, wurde den Jesuiten in einer großen
  Propagandakampagne nun die Bildung eines eigenen Staates, ja eines
  Königreiches in Paraguay, mithin: Hochverrat vorgeworfen. 1767 wurde der
  Orden aus der spanischen Besitzung verbannt, die Missionare in Amerika
  wurden verhaftet. Die in den Reduktionen vermuteten Schätze blieben Gerücht.
  Die vorhandenen Vorratshäuser und Magazine wurden geplündert, die Arbeit der
  Indianer nicht mehr straff organisiert, die Gütergemeinschaft zwar erhalten,
  doch die Verwaltung jetzt unter einen (nur fürs Geistliche zuständigen) Pater
  (meist ein Franziskaner) und einen königlichen Beamten geteilt. Die Folge
  war, daß die Reduktionen bis zum Ende des Jahrhunderts auf die Hälfte der Bewohner
  zusammenschmolzen und sich schließlich gänzlich auflösten oder aber aus den
  Missionsdörfern ganz normale Dörfer wurden. Der Streit um sie aber war lange
  noch nicht zu Ende.   | 
  
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   [9] Geschichte der Abiponer, einer berittenen und kriegerischen
  Nation in Paraguay. Bereichert mit einer Menge Beobachtungen über die wilden
  Völkerschaften, Städte, Flüsse, vierfüßigen Thiere, Amphibien, Insekten,
  merkwürdigsten Schlangen, Fische, Vögel, Bäume, Pflanzen und andere Eigenschaften
  dieser Provinz. Verfaßt von Herrn Abbe Martin Dobrizhoffer,
  achtzehn Jahre lang gewesenen Missionär in Paraguay. Aus dem Lateinischen
  übersetzt von A. Kreil. Wien 1783/4., vgl. u. Anm. 24, Lacombe, a. a. 0.,
  S. 109; Otruba, a. a. 0., S. '76; Krauss/Täubl, a. a. 0., 5.13; Caraman, a.
  a. 0 .. 5.290  [10] Vgl. Silvio A. Zavala, "La Utopia
  de Tomas Moro en la Nueva Espana«, in: Biblioteca
  Historica Mexicana de obras ineditas, Bd·4,
  Mexico 1937, S. 4-15.; Marcos Martinez Mendieta, "El imperio jesuitico y
  la ciudad del sol«. in: Foro
  Intenacional, Mexico, Bd.3, 1962,
  S. 277-305.; Baudin, a. a. 0.; Hin und
  Her, Hin süße und vergnügt, Her bitter und betrübt. Das ist treu gegebene Nachricht durch einen im Jahre 1748 aus
  Europa in West-America, nahmentlich in die Provinz Paraguay abreisenden und
  im Jahre 1769 nach Europa zurukkehrenden Missionarium P. Florian Paucke S.
  J. - Zwettler-Codex 420, hg. von Etta Becker-Donner unter Mitarbeit von
  Gustav Otruba. Wien 1959, S.57ff.; s. auch Richard Konetzke, »Zur Geschichte
  der Jesuitenreduktionen in Paraguay«, in: Vierteljahresschrift
  für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd.
  47,1960, S. 232-244   | 
  
   Die Jesuitenreduktionen: realisierte Utopie oder
  idealisierter Zwangsstaat?  Die ideologische Auseinandersetzung um die Jesuitenreduktionen -
  oder den »Jesuitenstaat« (schon die Wortwahl zeigt Position) - begann im 18.
  Jahrhundert als Propagandakrieg, und sie ist im 20. Jahrhundert noch nicht
  beendet. Der Streit begann als politische Auseinandersetzung zwischen
  aufgeklärten Staatsmännern und Philosophen einerseits und den Jesuiten
  selbst andererseits. Die bis ins 20. Jahrhundert fortgeschriebene apologetische
  Jesuitenliteratur mußte sich dabei nicht nur gegen aufklärerische Anklagen,
  sondern auch gegen manchmal unvermutete Freunde wehren: gab es doch Autoren,
  die in dem Gemeineigentum und der gemeinsamen Produktion der Indianer den
  Kommunismus verwirklicht fanden. Die außerordentlich zahlreiche jesuitische
  Verteidigungsliteratur bewies in der Wahl und dem Geschick ihrer
  Argumentation, wie lebendig die Tradition der »Akkomodation« im Orden war und
  ist: es läßt sich verfolgen, wie die jesuitischen Argumente den jeweiligen
  Zeitströmungen sich anschmiegten. Der Pater Dobrizhoffer näherte im 18. die
  Indianer dem Mode-Ideal des »edlen Wilden« an; im 20. Jahrhundert waren
  dann die Reduktionen einmal Modell für eine Art wirtschaftlicher »Hilfe zur
  Selbsthilfe«, oder sie wurden in den sozialkritisch gesonnenen 60er Jahren
  in der Nähe kommunistischer Sozialordnungen angesiedelt; gegenwärtig dienen
  sie mal als Vorbild einer »Demokratie für ein farbiges Volk« oder als Hilfe
  bei der Identitätsgewinnung für die Indianer heute.[9]  - Jedenfalls wurde im Lauf der Zeit aus dem
  politischen Streit zunehmend ein akademischer (mit politischer Relevanz):
  war in den Ebenen Paraguays abseits aller Revolutionen der Versuch
  geglückt, einen idealen Staat, eine Utopie zu errichten?  Die Auseinandersetzung darüber, ob die Jesuiten sich eine der
  zeitgenössischen Utopien (die Utopia des Morus, 1516, oder den Sonnenstaat des Campanella, 1602) zum Vorbild genommen hätten,[10] kann wohl
  als entschieden gelten: die Jesuiten folgten keinem bestimmten Vorbild; sie
  griffen Ideen auf, die gleichsam in der Luft lagen, wie auch vorhandene
  indianische Traditionen aus der Sozialordnung des Inkareiches. Letzteres
  aber wurde damals so verstanden, daß es gleichberechtigt in den politischen
  Rahmen des europäischen Absolutismus paßte, ja, geradezu als dessen Utopie
  aufgefaßt werden konnte. Dies gilt auch für die, ebenfalls als Vorbild für
  die Jesuiten reklamierte Darstellung des Inkareiches durch Garcilaso de la
  Vega, dessen Comentarios reales
  (1609) ganz sicher stark von den Ideen des Absolutismus geprägt waren.[11]
  Die Jesuiten paßten sich, wie immer in ihrer »Akkomodationspraxis«, örtlichen
  Gegebenheiten an und folgten praktischen Organisationsnotwendigkeiten. Mit
  Ernst Bloch kann man ihre Missionsorganisation »campanellahaft«[12] nennen
  und damit den akademischen Prioritätenstreit überflüssig machen.  Die Ausgangspositionen des Streits um die Reduktionen lassen
  sich in zwei Quellenauszügen darstellen. Da wäre einmal die weit verbreitete Schrift
  des angesehenen italienischen Historikers Ludovico Muratori, die (1743/49
  erschienen) alle Argumente für die stark angegriffenen Jesuitenmissionen
  sammelte: die Einführung von Religion und Zucht bei den Indianern, die
  Selbstlosigkeit der Missionare, das geradezu urchristliche Zusammenleben bei
  der in den Missionen:   | 
  
   [11] Vgl. Thomas Lange, Idyllische
  und exotische Sehnsucht. Formen bürgerlicher Nostalgie in der deutschen
  Literatur des 18. Jahrhunderts, Kronberg/Ts. 1976, S. 204.  [12] Bloch, a. a. 0., 5.608.   | 
 
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   [13] Das glückliche
  Christenthum in Paraguay, unter den Missionarien der Gesellschaft Jesu.... beschrieben
  von Luduvico Antonio Muratorio seiner Lesenswürdigkeit wegen in das Deutsche
  übersetzt. Erster Theil. Wien, Prag und Triest ... 1758; vgl. Francisco
  Esteve Barba, Historiografia Indiana, Madrid 1964, S. 587   | 
  
   »Allein was war wohl für ein Mittel
  ausfündig zu machen, ihnen die wahre Religion beyzubringen; und wenn sie dieselbe
  auch erlerneten, wie würden solche Leute darinn verbleiben, welche nach Art
  der wilden Thiere ohne einige beständige Vereinigung, ohne einiges Gesetz
  ohne einige stete Wohnungen hin und her zerstreuet, in Wäldern und Höhlen versteckt
  leben, sich heute da und kurz darnach sehr weit davon entfernet befinden;
  welche beständig miteinander in Krieg verwickelt, so viehisch. so begierig
  nach dem Menschenfleische und so rachbegierig sind? Es fiel diesen weisen
  Geistlichen ein, sie hätten diese Unternehmung auf eben die Art und Weise
  auszuführen. deren sich in den alten Jahrhunderten diejenigen bediente, die
  mehr Verstand, als die anderen, hatten.«  »Wenn ihnen [TL: den Indianern] gesaget
  wird. unser Glaube lasse nicht zu. mehr als ein Weib zu nehmen; und daß
  derselbe die Liebe, die Demuth. die Verachtung der zeitlichen Güter und
  andere dergleichen Wahrheiten lehre: so fangen sie an das Gegentheil des
  ruchlosen von ihnen in den christlichen Städten beobachteten Lebens den
  Missionarien ins Gesicht zu sagen und bezahlen sie mit einem höhnischen
  Gelächter. Mit einem Worte die Erfahrung hat die Patres aus der Ges. Jesu nur gar zu sehr gelehret.
  daß von den Indianern keine Frucht zu hoffen ist. welche mit den Spaniern zu
  thun haben können. und daß sie die Bemühungen der Missionen nur zu denjenigen
  Völkern allein wenden müssen. welche weit von den Städten und dem Umgange der
  Europäer leben.«  »Man ist nicht willens zu bergen. daß bey den Nationen
  von Paraguay das Predigen des Evangelii vielleicht nicht hinlänglich gewesen
  wäre, selbige Völker zu bewegen, sich zu vereinigen, und das süsse Joch Jesu
  Christi anzu nehmen, wenn man sie nicht mit menschlichen und material ischen
  Mitteln dazu gebracht hätte, dasselbe anzuhören, unter weIchen das
  kräftigste erkennet worden, daß man sie anfänglich im Überflusse mit
  Lebensmitteln versehen hat.« » ... und der meiste Theil von ihnen ist von
  solcher Eingezogenheit, von solcher brüderlichen Liebe, von solcher Unschuld
  der Sitten und Andacht, daß sie eine Abschilderung der ersten Kirche scheinen
  [ ... ]. Die Erfahrung hat zu erkennen gegeben, daß diese Indianer
  meistentheils von einem sanftmüthigen und freundschaftlichen Geiste sind, und
  heutzutage findet man bey den mehresten unter ihnen jene schöne Einfalt,
  welche in dem Evangelio, als den Kindern eigen, angepriesen wird. Nicht
  wenig trägt auch zur Erhaltung der Ehrbarkeit und Abstellung aller
  Ausschweifungen dieses bey, daß die Missionarien auch bey der Nachtzeit
  einige geheime Aufseher haben, welche ihnen alles, so ihrer Vermittlung
  bedürftig seyn möchte, unverzüglich berichten: Diese theilen unter sich die
  Nacht in drey gleiche Theile, und lösen einander zur bestimmten Zeit
  ordentlich ab. Die zeitliche Glückseligkeit, so die christglaubige Indianer
  in den Provinzen von Südamerika genüssen, ist nicht geringer als die
  Geistliche. Eine Glückseligekeit, welche sich zwar viele an Pracht,
  Verschwendung, und Wohllüsten gewohnte Europäer bey diesen armen Völkern
  unmöglich werden einbilden können; die aber, wenn man sie nach den
  Grundsätzen der Wahrheit betrachtet, dennoch bey ihnen wirklich, und
  vielleicht in einem weit vollkommenern Grad, als bey vielen europäischen Völkern
  anzutreffen ist. Meines Erachtens sind eine wohlgeordnete Freyheit, ein
  genugsamer Vorrath zur Speise, Trank, Kleidung und Wohnung, der geheime
  Friede, die Gemüthsruhe und Zufriedenheit, die wahre und ächte Gründe, auf
  welche die zeitliche Glückseligkeit eines ganzen Volkes beruhet. Der größte
  Theil deren von Paraguay führt kein anders Leben, und treibt kein andres Handwerk
  als unsre Bauern in Europa, deren die meisten ungeschlacht, dumm, und von keinem
  Verstand sind; doch aber insgemein von guten Sitten, eben darum weil sie ohne
  Bosheit, und mit den Boshaften keinen Umgang haben, sondern sich mit ihrer
  Arbeit einzig und allein beschäftigen. Doch findet man nicht nur in den
  Städten, sondern auch auf dem Lande fähige Leute; besonders wo die Luft rein
  ist; welche sofern sie zu den Künsten, Wissenschaften, und zur Handlung angehalten
  werden, darinne unvergleichlichen Fortgang machen. - Eben dieses würde mit
  den Indianern geschehen, wenn ihre Kinder gleichwie unsre in Europa in den
  Schulen könnten abgerichtet werden. Es ist nicht zu zweiflen, daß nicht
  einige derselben sich in den Wissenschaften und freyen Künsten hervor thun
  würden. Man kann dieses, aus der großen Leichtigkeit schließen, mit welcher
  sie die Musik und andre Künste, in welchen sie von den Missionarien
  unterrichtet worden, begriffen haben, dergestalt, daß sie den Spaniern nicht
  nur gleichgekommen, sondern selbe übertroffen haben."[13]  | 
  
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   Die Gegenargumente
  versammelte der portugiesische Premierminister Marques de Pombal in seiner
  Anklageschrift: Kurze Nachricht von der Republik der Jesuiten (1757). Sie
  diente vor allem der Untermauerung der Position Portugals im Kampf um die von
  den Missionaren zu räumenden Grenzprovinzen (s.o.). Darüber hinaus
  wurde hier aber auch im Zuge der antijesuitischen Tendenzen Pombals die
  Kritik für die Kritikrichtung der folgenden 200 Jahre angegeben: Die Jesuiten
  führten nach Pombal ein drakonisch strenges Regiment über die Indianer, die
  sich für das Wohlleben der Patres abschufteten und nur durch jesuitische
  Greuelmärchen über die Weißen zusammengehalten würden.   | 
  
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   [14] Pombal in der
  deutschen Übersetzung bei Otruba, a. a. 0 .. S. ,7 ff.   | 
  
   »Es ist in den
  Einöden Sertoens, unweit den Flüssen Uruguay und
  Paraguai eine sehr mächtige Republique, welche von dem einen Fluß zu dem
  anderen 31 große Völkerschaften und gegen 100.000 Mann zählet. Gleich wie
  diese zum Vortheile der Jesuiten an Geld sehr vermögend, und den Überfluß an
  Früchten hatte, desto bedürfftiger und unglückseeliger befanden sich die
  trostlosen Indianer, welche unter einer betrübten Leibeigenschaft gedrukket
  seufzen mußten. [ ... ] Ja sogar haben sie listiglich in selbiger Republique
  und ihren Gegenden die Spanische Sprache einem jeden verbotten, nur allein
  den Gebrauch der sogenannten Guaranaischen zulassend, um auf diese Weise
  alle Gelegenheit einer Communikation zwischen den Indianern und Spaniern
  abzuschneiden, auch alles in Geheim und entfernt zu halten, auf daß keine
  Parthei von dem was wisste, was sich in den bedrängten Sertoenschen Einöden
  zutrüge. Endlichen, da sie nach ihrer Art denen Indianern die Christenlehr
  hielten und ihnen in ihrer Unschuld als einen unumstößlichen Grundsatz des
  Christentums den blinden Gehorsam einflößten. Sonderlich aber sollten sie
  sich an den von ihren Missionariis vorgeschriebenen Gebothen halten, welche
  ohnedem sehr hart und unerträglich waren, wie ich folgendes erzehlen werde.
  Jedoch gelunge es ihnen durch so viele Jahre, diese unglücklich vernünftige
  Seelen in der härtesten und unterträglichsten Dienstbarkeit zu erhalten, wie
  man bißhero gesehen, maßen diese armseelige Indianer der Meinung waren, als
  wäre in der Welt kein mächtigerer Souverain als die Heiligen Patres Jesuiten.
  Sie vermeinten auch, daß sie gäntzlich Vollmacht über ihr Leib und Leben
  hätten, nicht wissend, daß sie einen König hätten, dem sie nicht als
  Unterthanen, sondern als wirkliche Leibeigene gehorchen müßten.  Es hielten nemlich
  die Indianer vor eine gewisse Wahrheit, daß alles, was ihnen von den
  Patribus geboten würde, müßte ohne Anstand und einzigen Zweifel vollzogen
  werden. Vermög dieser Beherrschung über Leib und Leben führten sie unter den
  Indianern eine General-Regul ein, welche der allgemeinen Art und der
  christlichen Liebe zuwider lauffet, dergestalten, daß sie erstlichen zu
  ihnen sagten, die weltliche Europäer oder Weiße wären solche Menschen, die
  ohne Gesätze und Religion lebten, das Gold als Ihren Gott anbeteten, auch
  sogar den Teufel in ihrem Leib hätten, folglich notwendiger Weise Feinde,
  nicht nur der Indianer, sondern auch der Heiligen Bilder wären, so die
  Indianer verehrten, solchergestalten, daß wann sie einmal den Fuß in ihr
  Land setzen würden, sie selbes mit Feuer und Schwerd verheeren und nach
  zerstörten Altären auch ihre Weiber und Kinder ihrer Wuth aufopfern würden.
  l ... ] Zu gleicher Zeit ließen sie ihre Indianer in den Waffen üben und versahen
  selbe mit Stuck, Pulver und Bley, auch mit dem Jesuiten-Habit verkleideten
  Ingenieurs, welchen Campementer und andere derlei Fortifikationsübungen, in
  denen die Indianer gleich unsren Truppen exerzieret werden mußten,
  anzustellen, anbefohlen worden.«[14]  | 
  
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   [15] Alexander von Humboldt, Reise in die Aequinoctialgegenden des
  neuen Continents,  in
  der deutschen Bearbeitung von Hermann Hauff. 6 Bde., Stuttgart 1861 -62; Bd.
  S. 5.4  [16] Vgl. Baudin, a. a. 0., S.25  [17] Zit. nach der Übersetzung Herders, in:
  ders., Adrastea, 4. Bde., Leipzig
  1802. Aus: Herders Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, 24. Bd., Berlin
  1886, S.26  [18] Buffon wird zitiert bei Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten
  Wilden und die Erfahrung der Zivilisation. Berlin 1981, S. 151 f.; vgl. auch Michele Duchet, Anthropologie et Histoire au siècle des lumières, Paris 1971, S. 210 ff.   | 
  
   Manche Punkte dieses Streites lassen sich einfach entscheiden.
  Die Reichtümer der Jesuiten existierten vor allem in der Phantasie ihrer
  Neider und Konkurrenten, der weißen Siedler, die den ökonomischen Erfolg
  der Reduktionen sich nach ihren Wünschen - nur in Mengen von Geld, Gold und
  Edelsteinen ausgemünzt vorstellen konnten. Davon wurde bei der Verhaftung
  der Patres (außer Kirchenschmuck) nichts gefunden; aber noch fünfzig Jahre
  später glaubte man im Urwald am Orinoko, wie Alexander von Humboldt berichtet,
  an diese Reichtümer: »Man zog daraus [daß sie nicht gefunden worden waren -
  TL] den falschen Schluß, die Schätze seyen allerdings vorhanden gewesen,
  aber treuen Indianern überantwortet und in den Katarakten des Orinoco bis
  zur einstigen Wiederherstellung des Ordens versteckt worden.«[15]  Andere Fragen waren sehr zeitgebunden, so die nach dem möglichen
  Hochverrat der Jesuiten gegenüber der spanischen Krone und ob sie sogar, wie
  Pombal ausstreute, einen eigenen König »Nicolas I von Paraguay« gehabt
  hätten. Das wurde im 18. Jahrhundert in einer umfangreichen Traktat- und
  Propagandaschriften -Literatur erbittert umstritten, doch waren dies nicht
  die überdauernden Gesichtspunkte. Nicht, ob die Jesuiten reich und autonom,
  sondern ob die von ihnen regierten Indianer glücklich waren, ob die
  kollektive Organisation von Arbeit und Eigentum als Modell taugte, ob hier
  eine vorbildliche Form der Kolonisierung oder sogar eine Utopie realisiert
  worden war, das bildete den Kern der Auseinandersetzung der nächsten 200
  Jahre.  Der glückliche Staat war nach den Maßstäben der aufgeklärten
  Philosophen des 18. Jahrhunderts einer, in dem viel, fleißig und
  diszipliniert gearbeitet wurde. Unter diesem Gesichtswinkel waren die  Jesuitenreduktionen
  vorbildlich. Hatte der erste Instruktor für die Reduktionen, Diego de Torres,
  1609 gefordert, die Indianer daran zu gewöhnen, die Zeit nach den strengen
  Abläufen eines Klosters einzuteilen,[16] um so die zur Lebenserhaltung
  erforderliche Arbeit bewältigen zu können, so hob Montesquieu 1748 in seinem
  Esprit des lois (IV. Buch, 6. Kap.) hervor, daß die
  Indianer durch diese strenge Regierung glücklicher geworden, daß hier
  Fortschritte für die Menschheit erzielt worden seien:   | 
  
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   »Zerstreute Völker
  hat sie [die Gesellschaft Jesu - TL] aus den Wäldern hervorgezogen, sie
  bekleidet, ihnen einen sicheren Aufenthalt verschafft, und hätte sie nichts
  gethan, als daß sie die Arbeitsamkeit unter den Menschen vermehrte, so that
  sie viel.« [17] In diesem Hauptwerk der bürgerlichen Rechtstheorie des 18.
  Jahrhunderts werden die gesellschaftsgründerischen Leistungen der Jesuiten
  den großen Gesetzgebern Plato und Lykurg an die Seite gestellt, denn sie
  alle hätten mit der Abschaffung von Geld und der Einführung von
  Gemeineigentum auch die individuellen Egoismen zugunsten des Gemeinwohls
  beschnitten. Auch der große Naturforscher Buffon lehrte in seiner Histoire
  naturelle (1749 ff.), daß die Jesuiten ein Beispiel für den friedlichen
  Fortschritt der bürgerlichen Ordnung gegeben hätten.[18]   | 
  
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   [19] Voltaire, Candide oder Die Beste der Welten,
  Stuttgart
  1980, S.38  [20] Voltaire, Essai sur les moeurs et l'esprit des
  nations, Bd. 2, Paris 1963, S.
  387 ff.; vgl. Kohl, a. a. 0., S. 160ff.  [21] Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autor du monde (1771), zit. nach der Ausgabe Paris 1966,
  S. 106 (Übersetzung: T. Lange)  [22] Bougainville, a.
  a. 0., 5. 108 f.   | 
  
   Die jüngere, mehr auf individuelle Freiheiten bedachte Richtung
  der Aufklärung beurteilte das Jesuitenreich kritischer. Voltaire ließ seinen
  Candide (1759) ein Paraguay erleben, das mit der Feder Pombals gezeichnet
  war: »Los Padres besitzen alles; das Volk nichts; das ist das Meisterstück
  der Vernunft und Gerechtigkeit«, erfährt Candide bei seinem Besuch.[19] In
  seinem großen Geschichtswerk Essai sur
  les moeurs et l'esprit des nations (zuerst
  1756; 1761 erweitert mit Kapiteln über die unzivilisierten Völker) folgt Voltaire
  zunächst dem gängigen Lob der Jesuiten: sie hätten die Indianer arbeitsam
  gemacht. Doch haben sie diese, auch in seinen Augen positive
  Zivilisierungsleistung dadurch entwertet, daß sie die Indianer wie Sklaven
  hielten, sowohl die weltliche wie die geistliche Herrschaft über sie ausübten
  und sie dadurch, so muß man im Rahmen seiner Argumentation ergänzen, an der
  allen Menschen möglichen Vervollkommnung ihrer Fähigkeiten hinderten.[20]  Ein im Sinne der
  »philosophes« gebildeter Augenzeuge verstärkte diese Kritik. Gerade zur Zeit
  der Verhaftung der Jesuitenmissionare (1767) befand sich der französische
  Kapitän und Naturwissenschaftler Louis-Antoine de Bougainville, der im
  Auftrag seiner Regierung mit einer wissenschaftlichen Expedition die Welt
  umsegelte, im Hafen von Buenos zu Aires. Er hielt die Auseinandersetzung mit
  den Jesuiten und ihrem Werk für so wichtig, daß er ihr ein ganzes Kapitel seiner
  1771 erschienenen, viel gelesenen Reisebeschreibung widmete. Seine Darstellung
  thematisiert den europäischen Einstellungswandel gegenüber den Jesuitenmissionen
  und dessen Motive. Bougainville beschreibt zunächst die Mühen und Erfolge
  der Jesuiten, die ein nur auf geistige Gewalt gegründetes Reich errichtet
  hätten, in dem alle Bewohner gleich seien, jeder arbeite und der Überschuß
  der Arbeit gemeinsam verwaltet werde. Doch als Beobachter an Ort und Stelle
  konstatiert er eine »ungeheure Kluft zwischen Theorie und [tatsächlicher -TL]
  Verwaltung«.[21] Nun fällt dem an Voltaire, Rousseau und der ökonomischen
  Theorie der Physiokraten geschulten Reisenden auf, wie wenig dieses riesige
  Gebiet mit einer Bevölkerung von 300.000 Seelen tatsächlich für Handel und
  Gewerbe genützt würde. Die Indianer erhalten Kleidung und Nahrung, aber die
  Jesuiten den Überschuß. Die letzteren führen ein bequemes Leben, die ersteren
  schuften sich von morgens bis abends ab, ohne freie Entfaltung des Gewerbes
  oder auch nur ihrer Persönlichkeit. Die Indianer hätten keinerlei Eigentum
  und »waren einer grausamen und öden Uniformität in der Arbeit und im
  Ausruhen unterworfen.« Die Jesuiten glaubten, daß
  die Indianer nicht intelligenter als Kinder seien, aber: »das Leben, das sie
  führten, hinderte diese großen Kinder, die Freuden der kleinen zu genießen.«[22] Bougainvilles Urteil läuft auf ein Verdikt hinaus:
  die Jesuiten hindern den Fortschritt der menschlichen und ökonomischen Entwicklung.
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    [23] Guillaume Thomas Raynal, Histoire philosophique et politique
  des établissemens et du commerce des européens dans les deux Indes, 10 Bde., Genf 1780 (Übersetzung: T.
  Lange); Bd. 4, 8. Buch, S.304-323.  [24] Dobrizhoffer, a. a. 0., Bd. 1, S.18  [25] Dobrizhoffer, a. a. 0., Bd. 2, S. 179  [26] Herder, Adrastea, a. a. 0., S. 23 - 25   | 
  
   Dieses Urteil wurde von dem einflußreichsten zeitgenössischen Werk
  über die europäischen Kolonien, von der zehnbändigen Histoire des deux Indes (1770, erweitert 1780) des Abbe
  Guillaume Thomas Raynal dann festgeschrieben. Zwischen Lob und Kritik der
  Jesuiten dominierte dann schließlich individuelle Freiheit und
  individuelles Eigentum als Maßstab von Fortschritt und Humanität:
  »Vielleicht wurde niemals Menschen soviel Gutes mit so wenig Bösem getan.« Paraguay war die einzige Gesellschaft auf Erden, wo die
  Menschen das zweithöchste Gut: die Gleichheit, nicht aber das höchste: die
  Freiheit, genossen haben. Fehlendes Eigentum verhinderte eine Vermehrung von
  Menschen und Gütern; denn die Guarani wurden wie Mönche gehalten: In der
  allgemeinen Gleichheit und Eigentumslosigkeit können sich weder individuelle
  Tugenden noch Leidenschaften entwickeln.[23] - Mit
  dem Gegensatz von Gleichheit und Freiheit, von Kollektivismus und
  Individualismus hat Raynal die Positionen der weiteren Auseinandersetzung
  genannt. Sie werden im 20. Jahrhundert im Streit um den sozialistischen
  Charakter der Reduktionen wieder aufgenommen.  Im 18. Jahrhundert versuchten die jesuitischen Verteidiger ihr
  Modell durch Rückgriff auf anerkannte bürgerliche Theoretiker zu retten.
  Einer der zwangsweise nach Europa zurückgeschickten und dort über seine
  Arbeit berichtenden Missionare war der Österreicher Martin Dobrizhoffer. In
  seiner drei bändigen Geschichte der
  Abiponier (1783/84) nimmt er
  heftig für Muratori und gegen Bougainville Stellung [24] und orientiert sich
  in seiner Beschreibung der Indianer an den zum Ende des Jahrhunderts
  üblichen rousseauistischen Vorstellungen vom "edlen Wilden": die
  Abiponier lebten wie die Germanen des Tacitus wild, frei und sittenrein in
  den Wäldern, als positiver Kontrast zu Spaniern und Europäern überhaupt: »Ich
  wenigstens weiß es gewiß, daß die Abiponier von der frechen Ausgelassenheit
  der Sitten, welche fast bey allen verfeinerten Nationen in Europa im
  Schwange geht, noch weit entfernt sind.«[25] Allein mit jesuitischer Strenge waren sie zum Christentum zu bekehren und für eine höhere
  Gesittungsstufe vorzubereiten.  Von diesen
  Rechtfertigungsschriften blieben diejenigen wichtig, die als Vorläufer der
  modernen Ethnologie angesehen werden können. Beruhten die Schilderungen
  doch auf jahrzehntelangen Beobachtungen der Missionare, die die Sprache der
  Indianer verstanden und an ihrem Leben teilnahmen. Noch 1802 meint J. G.
  Herder in einer der wenigen deutschen Äußerungen der Zeit dazu, daß nur die
  Feinde den Erfolg der Bemühungen des Ordens verhindert hätten: »Man glaubt
  einen Traum zu lesen, wenn man die Einrichtung dieser Republik an Fest- und
  Werktagen, bei Hochzeiten, bei Arbeit, Ernten und Lustbarkeiten nach den
  verschiedenen Jahreszeiten lieset. [ ... ] die Mühe, die der Orden an diese
  Völker gewandt, sie zur Ordnung und Arbeitsamkeit, zu Künsten, Handwerk und
  Manufaktur zu gewöhnen, [ist] auch nicht verlohren.«[26]
  Freilich meint Herder auch, daß der Sprung vom »Stand der Einfalt« zur
  »Jesuitenschule« zu groß war.   | 
  
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   [27] Krauss/Täubl, a. a. 0., S. 120  [28] Bougainville a. a.
  0., S. 114 (schwer übersetzbares Wortspiel:
  "il joua une sonate et je crus entendre les sons obliges d'une
  serinette")  [29] Ebd.  [30] Zit. bei Lacombe, a. a. 0., S. 119
  (Übersetzung aus dem Französischen: T. Lange)  [31] Hegel, ebd.  [32] Humboldt, a. a. 0., Bd. 6, S. 55 f.   | 
  
   Es ist sehr schwierig, den »Bildungserfolg« einzuschätzen, den
  die Jesuiten bei den Indianern erzielten. Ergebnisse ihrer handwerklichen und
  künstlerischen Fähigkeiten sind überliefert (Schnitzereien, Skulpturen etc.)
  und sollen heute mit Hilfe der UNESCO restauriert werden;[27] die
  Musikalität der Indianer wird immer wieder gerühmt, aber einem
  gesellschaftlich gebildeten (wenn auch nicht gerade unparteiischen) Zuhörer
  wie Bougainville schien das Geigenspiel eines Kaziken »wie eine gequetschte
  Vogelorgel«[28] zu klingen. Die von den Jesuiten gerühmte Lernfähigkeit der
  Indianer konnten nichtjesuitische Beobachter in der Regel nicht beurteilen,
  denn, um wiederum den höflich-skeptischen Bougainville zu zitieren, da die
  Indianer »nur Guarani sprachen, sah ich mich nicht in der Lage, den Grad
  ihrer Kenntnisse würdigen zu können«.[29] Mehr als hundert Jahre später
  wurden Briefe bekannt, die Indianer zur Zeit der Jesuitenvertreibung in
  Guarani an die spanischen Behörden gerichtet hatten. Sie könnten als Zeugnis
  ihres Selbstbewußtseins gelesen werden - obwohl natürlich der Anteil der
  Patres bei ihrer Abfassung unbekannt ist. In allen Briefen bitten die
  Indianer darum, die Jesuiten in den Reduktionen zu belassen. In einem vom 28.
  Februar 1768 heißt es: »Außerdem müssen wir dir [dem Gouverneur Bucareli -
  TL] sagen, daß wir auf gar keine Art Sklaven sind, ebensowenig wie unsere
  Vorfahren. Wir mögen auch die Art nicht, in der die Spanier leben, ohne sich
  zu helfen und ohne daß einer den andern unterstützt.«[30]
   Dieses (wie immer
  zustandegekommene) Bekenntnis zur kollektivistischen Lebensweise bezeichnet
  den Zentralpunkt der ideologischen Debatte: ist es Gleichheit in
  freiwilliger Solidarität oder erzwungene Knechtschaft, handelt es sich - mit
  Ernst Bloch zu sprechen - um eine Utopie der Freiheit oder der Ordnung? Da
  es sich bei dieser »amerikanischen Utopie« in jedem Fall aber um etwas
  handelt, was durch eine Organisation von außen an die Indianer herangetragen
  worden war, kann man die Frage auch so formulieren: können Menschen zum eigenen
  Lebensglück erzogen werden? Hegel verneint dies in seiner Philosophie der Geschichte: zwar seien in der »Sanftmut und
  Trieblosigkeit« der Indianer durch die Vorschriften der Jesuiten Bedürfnisse
  erweckt worden, aber letztlich sei dies an der »Inferiorität dieser
  Individuen« gescheitert, »und es wird wohl noch lange dauern, bis die
  Europäer dazu kommen, einiges Selbstgefühl in sie zu bringen«.[31] Der Reisende
  Alexander von Humboldt ist nicht so pessimistisch; er sieht das Mittel aber
  nicht in mehr Zwang, sondern in mehr Freiheit und Eigentum: ),Gäbe man das
  unvernünftige System auf, die Klosterzucht in den Wäldern und Savannen
  Amerikas einführen zu wollen, ließe man die Indianer der Früchte ihrer Arbeit
  froh werden, regierte man sie nicht so viel, das heißt, legte man nicht ihrer
  natürlichen Freiheit bei jedem Schritt Fesseln an, so würden die Missionäre
  rasch den Kreis ihrer Thätigkeit sich erweitern sehen, deren Ziel ja kein
  anderes ist, als menschliche Gesittung.«[32]   | 
  
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   [33] Karl KautskylPaul Lafargue, Vorläufer des neueren Sozialismus, Bd. 3, 5tuttgart/Berlin 1922, S. 159 und 172.   | 
  
   Verdiente die jesuitische Utopie den
  Untergang?  Die Kollektivwirtschaft der Reduktionen stellt auch im 20.
  Jahrhundert noch eine, nun freilich eher theoretische Herausforderung dar:
  ist sie zu den »Vorläufern des Sozialismus« zu zählen oder nicht? Paul Lafargue
  und Karl Kautsky geben im 3. Barnd der von Kautsky herausgegebenen Buchreihe
  dieses Titels (1922) Antworten, die in ihrer Gespaltenheit symptomatisch
  sind dafür, wie die aktuelle politische Perspektive die Sicht auf die
  Geschichte färbt. Lafargue unternahm es, die Jesuiten mit dem
  christlich-katholischen Sozialismus seiner Tage zu identifizieren. Daher
  steht das negative Urteil fest: er folgt weitgehend der von Pombal und der
  späteren Aufklärung vorgezeichneten Argumentation. Immer wieder setzt er
  Jesuiten mit Ausbeutern und Kapitalisten gleich: mit Zwang und Strafe wurden
  die Indianer (wie die Proletarier) zur Ausbeutung getrieben. Die Religion
  diente als zusätzliche geistige Fessel.  »Die ganze Zeit,
  die nicht der Arbeit und der nötigen Erholung gewidmet war. mußten sie in
  Gebeten verbringen, damit ihnen nicht eine Minute frei blieb, in der sie über
  ihre Lage hätten nachdenken können. [ ... ] Die christliche Republik [der
  Jesuiten-TL] war keineswegs eine kommunistische Gesellschaft. in welcher alle
  Glieder an der Erzeugung landwirtschaftlicher und industrieller Produkte
  teilnahmen und gleicherweise Anspruch hatten auf die
  erzeugten Güter. Sie war vielmehr ein kapitalistischer Staat, in dem
  Männer, Frauen und Kinder, zur Zwangsarbeit und zur Peitsche verurteilt und
  aller Rechte beraubt. in dem gleichen Elend und der gleichen Verkommenheit
  dahinvegetierten, wie kräftig auch Ackerbau und Industrie emporblühten, wie
  groß auch der Überfluß der Güter war, die sie erzeugten.«[33]   | 
  
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   34] So Baudin, a. a. 0.,
  S. 3, 60; Maria Faßbinder: Der
  "Jesuitenstaat" in Paraguay, Halle 1926, S. 127;
  Dieter Nohlen (Hg.), Lexkon Dritte
  Welt, Baden-Baden 1980, S. 283; Meyers Neues Lexikon, VEB Bibliographisches Institut, Leipzig
  1974, Artikel "Paraguay«, 1. 459  [35] Meyers Neues Lexikon, Leipzig, ebd.;
  vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Mannheim 1976, Artikel »Paraguay«, S.
  198; Encyklopaedia Britannica, London 1974, Artikel »Gaspar de Francia«;
  vgl. zur Kontinuität auch E. Galeano Die
  offenen Adern Lateinamerikas, Wuppertal
  1981, S. 218 ff.  [36]
  Münzel, a. a. 0., S.46  [37] »Un extranjero en su tierra«. So das Titelbild des
  in Darmstadt herausgegebenen "Paraguay-Rundbriefs« vom Dezember 1981, Nr.
  33, Jg.6, mit dem die Paraguay-Arbeitsgemeinschaft über die Lage der Menschen
  und ihre Rechte in diesem Land informiert.   | 
  
   Kautsky distanziert sich im Vorwort von diesen Ansichten: er sah
  vor allem die »ökonomische Meisterleistung« der Jesuiten, deren straff
  geführten Orden er bewundernd mit der bolschewistischen Partei verglich.
  Beide hätten versucht, eine rückständige Bevölkerung unter diktatorischer
  Leitung zu kommunistischer Produktion zu organisieren. - Es läßt sich
  zusammenfassen, daß die nicht-sozialistischen Historiker eher den sozialistischen
  Charakter der Reduktionen betonen, unter kräftiger Herausarbeitung von
  Uniformität und Abhängigkeit der beherrschten Indianer-Mehrheit, aber mit
  Betonung des "vorbildlichen Sozialwesens". Die sozialistische
  Geschichtsschreibung folgte Lafargue und spricht von einer
  "theokratisch verbrämte(n) Halbsklaverei".[34] Die Beurteilung wird heute erschwert durch die Tatsache, daß der
  auf dem Gebiet der ehemaligen Reduktionen 1811 entstandene Staat Paraguay
  seine nationalen Traditionen in besonderer Weise pflegt. Dazu gehört nicht
  nur das Weiterleben des auch von den Jesuiten verbreiteten Guarani als
  Verkehrssprache bei 90 % der
  Bevölkerung, sondern auch die bewußte Erinnerung an die patriarchale
  Herrschaft der Missionare, die einer nationalen Geschichte vorausging, die
  ihrerseits ganz wesentlich von zwei weiteren (und heute zwischen den
  weltpolitischen Lagern unterschiedlich interpretierten) Diktaturen geprägt
  wurde: der des Dr. Jose Gaspar de Francia (1814-40) und der des Generals
  Alfredo Stroessner (seit 1954). Dr. Francia unterdrückte blutig liberales
  Bürgertum und Kirche und führte, anknüpfend an die Kollektivwirtschaft der zu
  »pueblos« (Dörfern) gewordenen Reduktionen, eine Art Staatssozialismus ein.
  Heutige sozialistische Lexika werten dies als »fortschrittlich«, während im
  Westen eher die gewaltsamen Methoden des Diktators herausgehoben werden.[35]  Die Geschichte der
  indianischen Utopie - ob christlich oder sozialistisch inspiriert - endet jedenfalls
  im 19. Jahrhundert. In den sechziger Jahren wurden mit dem Aufbrechen der
  isolationistischen Autarkiebestrebungen auch die Überbleibsel indianischer
  Kollektivwirtschaft beseitigt, ohne daß das Andenken daran freilich verloren
  wäre.[36] Als Einwanderungsland blieb Paraguay der Ort für Rest-Utopien,
  freilich allein für Nicht-Indianer. Deutsche haben daran ihren Anteil, wie
  der rassistische NietzscheSchwager Förster im 19. Jahrhundert oder wie die
  einigen Tausend Mennoniten, die seit dem 2. Weltkrieg in Paraguay siedeln.
  Für die Indianer gilt, daß sie - wie anderen Orts in Amerika - »Fremde im
  eigenen Land« geworden sind.[37]   | 
  
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   [38] Hochwälder, a. a. 0., S. 49 (III,2);
  Alfred Döblin, Amazonas, Roman (]93718), Freiburg/Br. 1963, S. 576
  f.  [39] Roa
  Bastos, a. a. 0., S.37 u. 40.   | 
  
   Die Utopie überlebt in der Literatur. In Alfred Döblins
  Exilroman Amazonas (1937'38) wird die indianische Staatengründung und ihr Untergang
  zur Parabel für den Anlauf zu einer jüdischen Staatsgründung in den
  Verfolgungszeiten der dreißiger Jahre. Indianisches »Kanaan« und »Arche Noah«
  sah Döblin in der Konfrontation mit Machtpolitik scheitern. Die Folgerung
  für ein zionistisches Palästina liegt nahe. Die Idee vom christlichen
  Zusammenleben läßt sich zwar irdisch-tüchtig organisieren, aber weder dringt
  das Glaubensdogma christlicher Sündhaftigkeit ins Bewußtsein der Indianer,
  noch kann eine christliche Republik sich gegen die irdischen Staaten behaupten.
  - Eine andere Parabel auf den notwendigen Untergang des Ideals in der
  Realität schrieb der österreich ische Dramatiker Fritz Hochwälder in seinem
  heiligen Experiment (1943). Die Verwirklichung von Frieden und Gerechtigkeit
  kann nicht geduldet werden in einer Welt, die durch gegenläufige Mächte
  regiert wird. Ob nun bei Hochwälder der jesuitische Realpolitiker verkündet:
  »Diese Welt aber ist ungeeignet zur Verwirklichung von Gottes Reich« oder
  bei Döblin ein Indianer in der Reduktion »diese(r) unerbittliche(n) Ordnung,
  der Natur aufgeprägt« - seufzt: »Wir wären noch fröhlicher, wenn wir ganz
  frei wären«.[38] Worin auch immer die Ursache für den Untergang gesehen wird:
  daß Utopien untergehen mußten, bleibt die unumstößliche literarische Moral.  Der paraguayische, im Exil lebende Autor Augusto Roa Bastos
  rückt vom bloß moralischen Urteil ab. In seinem Roman Ich, der Allmächtige
  (1974) läßt er den Diktator Francia auch über die Jesuiten als seine
  Vorgänger in der Herrschaft, nachdenken. Der grausame »Ewige Diktator«, der
  die Ausbeutung der Eingeborenen durch die Abschaffung des Privatbesitzes
  beendete, sieht in der Niederlassung der Jesuiten »eine riesige
  Soutanenkaserne«, ein verspätetes Mittelalter.[39] Aber es ist der größenwahnsinnige,
  einsame und menschenfeindliche Francia, der dies schreibt, im Bewußtsein, daß
  auch sein Staat zu den gescheiterten Utopien Amerikas gehört.   | 
  
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