Historia interculturalis

 

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Takashi Naraha

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Hier im Anschluss auf dieser Seite:

1. China als Metapher. Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert

von Thomas Lange

 

 

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2. Vom Reiz des Unverständlichen. Victor Segalens Ästhetik des Fremden

von Wolfgang Geiger

 

 

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von Wolfgang Geiger

Beitrag für eine französische Zeitschrift 1992.

 

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Alte und neue Chinoiserien

1. Yin und Yang im Klassenzimmer?

China-Moden der 80er Jahre – mit einem kurzen Rückblick auf Brecht

von Thomas Lange

Redaktionell überarbeiteter Artikel aus Diskussion Deutsch von 1985. Mit einer aktuellen Einleitung als Brückenschlag über zwanzig Jahre modische Chinoiserien.

 

 

 

Essay

2. Das westliche Asienbild im Zeitalter der Globali­sierung

Aktualisierte Beobachtungen und Notizen von 1997

von Wolfgang Geiger

In der „Gelben Gefahr“ verbinden sich alte mit neuen Stereotypen der Angst. Aktualisierung einer Presseanalyse von 1997

 

 

L’image de l’Asie en Occi­dent à l’époque de la mondiali­sation

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Synopse zur politischen Geschichte Vietnams im internationalen Kontext

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Thomas Lange

China als Metapher.

Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert

 

Dieser Text erschien zuerst in der Zeitschrift für Kulturaustausch, Heft 3, 1986,

S.341-349.

ÖZeitschrift für Kulturaustausch

[1] Grundlegend dazu: Diethelm

Balke: Orient und orientalische Lite­ratu­ren. In Paul Merker / Wolfgang Stammler (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., 2. Bd. Berlin 1965, S. 840ff.: zu China S. 858-865. - Horst Ham­mitzsch: Ostasien und die deutsche Literatur. In: Wolfgang Stammler (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriß, 2. Aufl., 3. Bd., Berlin 1962, Sp. 599-611. - Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925. Bern 1977.

[2] s. die Angaben bei Balke und Hammitzsch (Anm. l).Vgl. Schuster, a. a. 0., S. 58 ff. - Georg Adolf Narciß (Hrsg.): Im Fernen Osten. Forscher und Entdecker in Tibet, China, Japan und Korea. 1689-1911. Frankfurt am Main 1985. - Heinrich Schliemann: Reise durch China und Japan im Jahre 1865. (Franz. 1867) Konstanz 1984

[3] Adrian Hsia: Hermann Hesse und China (1974). Frankfurt am Main 1981. - Younosoon Kim-Park: Die Beziehungen der Dichtung Hermann Hesses zu Ostasien. Diss., München 1977. - Antony Tatlow and TatWaiWong (ed.): Brecht and East Asian Theatre. - The Proceedings of a Conference on Brecht in East Asian Theatre, Hong Kong, 16-20 March 1981. Hong Kong / Aber­deen: Hong Kong University Press 1982. - Günther Debon u. Adrian Hsia (Hrsg.): Goethe und China - China und Goethe. Bern/Frankfurt am Main / New York 1985. - Günther Debon: Schiller und der chinesische Geist. Frankfurt am , Main 1984. - Ulrich von Felbert: China und Japan als Impuls und Exempel. Fernöstliche Ideen und Motive bei Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch. (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, hrsg. von Helmut Kreuzer und Karl Riha, Bd. 9) Frankfurt am Main / Bern / New York 1986

 

[10] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philo­sophie der Geschichte. Zit. n.: Adrian Hsia (Hrsg.): Deutsche Denker über China. Frankfurt am Main 1985, S. 171. - Friedrich Nietzsche: Morgen­röthe. Gedanken über die morali­schen Vorurteile (1881). (3. Buch, Nr. 206). Zit. n.: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bän­den, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3, München 1980, S. 185. - "Herdentier" findet sich bei Nietzsche in: Ecce Homo (1888), zit., n. ders.: Der Antichrist. Ecce Homo. Dionysos-Dithyramben. München o. J. (Goldmann Klassiker Nr. 7511), S. 188. - Wichtige Hin­weise bei Ernst Rose: China als Symbol der Reaktion in Deutsch­land, 1830-1880. (engl. 1951). In: ders.: Blick nach Osten. Studien zum Chinabild in

der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bern / Frank­furt am Main / Las Vegas 1981, S. 90-129

[11] Martin Buber: Die Lehre vom Tao (1910), zit. n.: Hsia: Deutsche Denker, a. a. 0., S. 292, 307

[12] Brief vom 29. November 1918, zit. bei Schuster, a. a. 0., S. 151

[13] s. dazu Schuster, a. a. 0., S. 90 ff., S. 147 ff.

[14] Vgl. Bauer, a. a. 0., S. 182 f., 186

 

 

Noch bevor man in Europa genau wußte, wo China geographisch zu lokalisieren war, beschrieb man schon, wie es dort zuging: Ganz anders; alles schien geradezu auf den Kopf gestellt.

Nicht den wahrheitsgetreuen Berichten des Marco Polo (1298), sondern den daraus zusammenphantasierten Abenteuer des Ritters Mandeville (1366) wurde Glauben geschenkt. Wer "China" beschrieb, wollte seinen Lesern vor allem ein Bild von etwas anderem vor Augen führen, wollte etwas schildern, das ab­schrecken oder vorbildlich sein sollte und so weit entfernt war, daß man es mangels exakterer Zeugnisse einfach glauben mußte - oder wollte. China war literarische Metapher für den Kontrast zum Abendland (wie Italien und Griechenland für die vergessenen Ursprünge, wie es Amerika für die Zerstörung der reinen Natur war).

Chinesische Themen und Motive gibt es in der deutschen Literatur seit dem 17. Jahrhundert [1], Berichte deutscher China-Reisender (von einigen Missionaren abgesehen) erst seit dem 19. Jahrhundert. [2] Neben vielen anderen verwendeten auch Goethe, Schiller, Hesse und Brecht chinesische Motive [3], doch es ist weniger aufschlußreich, bei diesen Autoren Übereinstimmungen mit der chinesischen Gedankenwelt zu suchen [4] als die fruchtbaren Miß­verständnisse, die immer "integrierender Bestandteil des Interesses am Fremden" sind.[5] Denn in diesen Mißverständnissen wirken kollektive Denkschemata, zeittypische Bedürfnisse, die unrealisierte Gedanken in möglichst weiter Feme Gestalt annehmen lassen. In diesem Sinn sind sowohl Goethes oft zitiertes Diktum über die Chinesen ("daß bei Ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht") wie die ihnen von Karl May (im "Blauroten Methusalem", 1892) zugeschriebene "Feigheit" und "Grausamkeit" [6] sicher beides einseitige "Mißverständnisse", die aber beide durch die zu ihrer Zeit jeweils herrschende Überzeugung ebenso legitimiert wie auch zugleich relativiert werden.

Die Geschichte des Chinabildes bis zum 20. Jahrhundert ist von extremen Schwankungen gekennzeichnet: Nach den fabulös-grotesken Zerrbildern der "merkwürdigen und wunderbaren Tartarei" , die vom späten Mittelalter bis zum Barock bestimmend waren, setzte sich durch die Jesuitenberichte im 17. und 18. Jahrhundert das von Leibniz bis Voltaire gepriesene Idealbild eines vernünftigen, sittlichen, gerechten und geordneten Staatswesens durch: eine im Fernen Osten verwirklichte Aufklärung. Im 19. Jahrhundert, zur Zeit der kolonialistischen Übergriffe und des europäischen Fortschrittglaubens, galt China als hoffnungslos rückständig, als "balsamierte Mumie" (Herder), und damit als realisierte Satire des überlebten europäischen Absolutismus.[7] Das Bild vom lächerlich steifen, bezopften Chinesen gewann erst gegen Ende des Jahrhunderts eine neue Dimension, als (etwa seit 1895) von der "gelben Gefahr" gesprochen wurde. Darunter stellte man sich - von Kaiser Wilhelm II. bis zum Sozialdemokraten Franz Mehring - nach den überraschenden militärischen Vorfällen des chinesisch-japanischen Krieges (1894/95), des Boxeraufstandes (1900) und des russisch-japanischen Krieges (1905/06) ein Überrollen des Westens durch japanische Industrie und chinesische Kulimassen vor. [8]

Neben dem drolligen Zopf träger etablierte sich das Klischee vom "hinterhältigen Schlitzauge". [9] Doch insgesamt stellte man sich Chinesen - auch das war Teil des Bildes - weniger als Individuen denn als Kollektiv, als Masse vor: War schon für Hegel China das "Reich der absoluten Gleichheit" mit dem Despotismus als notwendig korrespondierender Regierungsweise, so wird daraus bei Nietzsche - wohl als erstem - das durchaus verächtlich gemeinte Wort von den Chinesen als "arbeitsame(n) Ameisen", eine naheliegende Assoziation zu seinem Begriff vom "Herdentier" für die um ihre Herreninstinkte kastrierte Masse "armselige Chineserei" .[10] Erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als der abendländische Individualitätsgedanke mit dem Aufkommen der industriellen Massengesellschaft in eine Krise geriet, wurde der Vorstellung vom gesichtslosen Kollektiv das Bedrohliche genommen. Der einzelne, der sich verloren fühlte, suchte Rettung in einem Ganzen, im Rückgang zum Primitiven, Ungeschiedenen, wie Entwicklung der Kunst und literarische Thematisierung des Exotischen auch in anderen Bereichen belegen. Martin Buber deutete 1910 die Lehre vom Tao als "Wirk­lichkeit des wahrhaften Lebens", wo Subjekt und Objekt ungeschieden sind, "als das Einigende, das alle Abirrung vom Lebensgrunde überwindet, als das Ganz­achende, das alle Zersonderung und Brüchigkeit heilt".[11] Die ganz unmittelbare Tröstungserfahrung, die ein Europäer dieser Zeit in der taoistischen Gedankenwelt finden konnte, formulierte der Lyriker Klabund, der selbst eine der gut zwei Dutzend deutschen Übersetzungen des "Daodejing" (Tao te-king) in diesem Jahrhundert lieferte, in einem Privatbrief: "Wäre ich nicht ein Jünger des Tao ... wüßte ich nicht, daß die Einzelseele so gut unsterblich wie die Gesamtseele (das Urtao), so hätte ich mir längst eine Kugel in den Kopf gejagt."[12]

Während in den zahlreichen Übersetzungen, Nachdichtungen und sinisierenden Nachempfindungen der deutschen Lyrik seit der Jahrhundertwende romantische Stimmungen oder philosophischer Gehalt überwogen [13], wirkten in den deutschen Romanen zwei Strömungen weiter, die ansatzweise auch schon Goethe beeinflußt hatten: einmal die konfuzianisch-vernünftige Sicht, zum anderen die taoistisch-pantheistische, natürlich-sinnliche Sichtweise.[14] Aus dem 19. Jahrhundert überkam China als leicht durchschaubare Metapher für politische Reaktion, für die Künstlichkeit überlebter Sitten und Zeremonien und lebensferner Regierungen; dafür gibt es literarische Belege von Heinrich Heine bis Theodor Fontane.[15] Mit den krisenhaften Erschütterungen im Umfeld des Ersten Weltkrieges begann dann eine Umwertung, nämlich die hoffnungsvolle Suche nach chinesischer" Weisheit" . Dieser Übergang findet sich bei zwei Romanen [16], die zu Anfang des Jahr­underts zugleich das Chinabild um eine neue Komponente bereicherten: Alexander Ulars "Die gelbe Flut" (1908) und Alfred Döblins "Die drei Sprünge des Wanglun" (1915) rücken die chinesischen Menschenrnassen in den Rang von Romangestalten.

Sie sind bei Ular schon im ersten Satz präsent: "Gleichwie glitzernde Ameisen an ihrer Arbeitsstelle und dennoch. in vollkommener Ordnung".[17] Döblin entwirft in sprachlich-virtuosen, in der deutschen Literatur neuartigen Szenen das Bild einer Masse, die aus Tausenden zu einer neuen Gestalt, einem "Riesen" oder "tausendarmigen Buddha" zusammenschmilzt. [18] Die Beziehung der beiden Autoren zum Thema "China" kann nicht gegensätzlicher sein: Alexander Ular, aus Deutschland gebürtiger naturalisierter Franzose, umtriebiger und einflußreicher Journalist und politischer Publizist, China-Kenner und Daodejing (Tao-te-king)-Übersetzer auf der einen Seite; auf der anderen der Berliner Kassenarzt Alfred Döblin, der seine Kenntnisse (die selbst kundige Rezensenten verblüfften) nur aus Bibliotheken schöpfte und der durch die Laozi (Lao-tse)-Übersetzungen des Sinologen Richard Wilhelm zur Beschäftigung mit China angeregt wurde.[19] Will Ular politisch wirken, sein Konzept der im "Panmongolismus" drohenden, gelben japanischen Gefahr und des dagegen notwendigen Zusammengehens der Europäer mit den Chinesen wirkungsvoll vertreten, so wendet sich Döblin in einer persönlichen Krisensituation, unter ausdrücklicher Ablehnung der gängigen China-Mode, dem Taoismus zu. Er will einen Roman gegen den Fortschrittsglauben (wie ihn der Futurist Filippo T. Marinetti in seinem "afrikanischen Roman" "Mafarka" [1910] verherrlicht hatte) schreiben, nicht einen "neuen Menschen", sondern den alten zeigen, dem alles Handeln mißlingen muß, auch wenn er sich wie die Sekte der "Wahrhaft Schwachen" des Wang-lun das Nicht-Handeln zum Prinzip macht: "Stille sein, nicht widerstreben, kann ich es denn?" schließt Döblins Roman. Auch bei Ular scheitert der Held, ein französischer Ingenieur (allerdings am Gegensatz von westlicher Aktivität und östlicher Passivität): Sein Plan, technischen Fortschritt zu bringen, zerbricht am Widerstand der Chinesen, die sich gegen den Herr­schafts­anspruch der Europäer auflehnen. Ihre "freie genossenschaftliche Arbeit", "die helfende Kraft des Gemeinschaftsgefühls" [20] würde durch den Kapitalismus, das Profitstreben des einzelnen zerstört.

Zur Einordnung des Textes in den inter­kulturellen Auf­bruch der Geistes­wissenschaf­ten, siehe dazu die Bilanz der For­schung zum Thema  „Interkulturelle Begegnung / Inter­kulturelle Herme­neutik“

 

ÖForschung  

 

 

[4] Debon, Schiller, a. a. 0., S. 27 ff. - Meredith Lee: Goethes Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten. In: Debon u. Hsia; Goethe und China, a. a. 0., S. 37-50, hier: S. 49

[5] Wolfgang Bauer: Goethe und China: Verständnisse und Mißver­ständ­nisse. In: Hans Reiss (Hrsg.): Goethe und die Tradition. Frankfurt am Main 1972, S. 177-197, hier: S.177.

[6] Goethe zu Eckermann am 31. Januar 1827 (dem Jahr der "Chine­sisch-deutschen Jahres- und Tages­zeiten"), zit. n. Bauer, a. a. 0., S. 182. - Karl May zit. n. Schuster, a. a. 0., S. 57

[7] Wolfgang Franke: Chinabild. In: ders. u. Brunhild Staiger (Hrsg.): China-Handbuch, Düsseldorf 1974, Sp. 203-209

[8] Heinz Gollwitzer: Die gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlag­wortes. Göttingen 1962, S. 26, 44, 171

[9] Schuster, a. a. 0., S. 56 ff.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 [15] Ausführlich bei Rose, a. a. O. - Vgl. Peter Utz: Effi Brliest, der Chine­se und der Imperialismus: Eine "Ge­schichte" im geschichtlichen Kontext. In: Zs. f. dt. Phil, Bd. 103, H. 2, 1984, S. 212-225

[16] Ich beschränke mich auf eine repräsen­tative Auswahl. Über­sichten über die Fülle der Romane mit chine­sischen Themen bei Balke und Schuster, a. a. 0., S. 88 f. – Anre­gungen bei Heribert Seifert: "Aber Shanghai ist ein böser Boden". Literarische Bilder aus der Ge­schichte einer großen Stadt. In: Neue Zürcher Zeitung, 6. 4.1984, Nr. 81, Fernausgabe.

[17] Alexander Ular: Die gelbe Flut. Berlin 1908, S. 1

[18] vgl. die Analyse bei Klaus Müller-Salget: Alfred Döblin, Werk und Wirkung, Bonn 1972, S. 156

[19] zu Ular s. Gollwitzer, a. a. 0., S. 155 ff. - zu Döblin s. Ingrid Schuster: Die drei Sprünge des Wang-lun. In: dies. (Hrsg.): Zu Alfred Döblin. Stuttgart 1980, S. 82-97

[20] Ular, a, a. 0., S. 297 f.

 

 

[21] Der deutsche Reisende Alfons Paquet berichtet darüber: Li oder im neuen Osten. Frankfurt am Main 1912

 

 

[22] Ular, a. a. 0., S. 303, 384, 417

 

[23] Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun. München (dtv 1641), 1980, S. 471

Beide Autoren greifen tatsächliche Ereignisse auf: Döblin einen Aufstand des Jahres 1774, Ular die durch Europäer begonnene Industrialisierung Chinas.[21] Auch wenn bei Döblin gänzlich chinesisches Milieu vorherrscht, bei Ular dagegen der Zusammenprall von europäischer und chinesischer Kultur thematisiert wird: Beider China ist Metapher für ein Problem, das die europäischen Intellektuellen jener Jahre bewegte. Mag es bei Ular mehr die konfuzianisch-rationale Tradition, bei Döblin die neuere, taoistisch-mystische sein: Wenn bei Ular der einzelne Chinese im "sozialen Instinkt", das "Müssen seiner Rasse ohne Rest in ihm" auf­geht, am Schluß die siegreichen "glitzernde(n) Ameisen in höchster Zweck­mäßigkeit gesellschaftliche Arbeit tun "[22], bei Döblin dagegen Wang-lun vor der endgültigen Niederlage sagt: "Schwach sein, ertragen, sich fügen hieße der reine Weg. In die Schläge des Schicksals sich finden hieße der reine Weg"[23], so ist das bei beiden ein Bild für die Ohnmacht des Individuums. Es ist verborgene Sehnsucht nach einer verlorenen kollektiven Harmonie, wenn bei Döblin die Wahrhaft Schwachen das Westliche Paradies - allerdings nur im Tod - erreichen, bei Ular die Europäer von dem eigengesetzlich in sich ruhenden sozialen Organismus der Chinesen ausgeschlossen werden.

 

[24] vgl. Hsia; Hesse, a. a. 0., S. 97; Schuster; Döblin, a. a. 0., S. 85

 

 

 

 

 

[25] Richard Wilhelm: Die Seele Chinas. Berlin 1926, S. 68 f., 91, 266, 347

Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Suche nach jenem scheinbar unzerstörbaren geistigen China epidemische Formen an. Die Abwendung von Kriegs- und Nachkriegselend und von politischer Zerrissenheit, die Trauer über den Zusammenbruch der Bildungstradition der deutschen Klassik ist mancher China-Publikation schon in den Titel geschrieben: "Mensch, werde wesentlich!" verdeutscht Klabund das Daodejing (Tao te-king) (1921). An Hermann Hesses Erfolgsroman "Siddharta" (1922) ist nur als Symptom für die Sehnsucht ins Fernöstliche zu erinnern. Weithin wurde mystische Selbstversenkung und Meditation nach östlichem Vorbild durch den Bestseller des Grafen Keyserling "Reisetagebuch eines Philosophen" popularisiert. Er erschien im gleichen Jahr (1919) wie Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" und schien gegen dessen Pessimismus einen festen Halt in den zweitausendjährigen Lehren des Fernen Ostens zu bieten. Keyserlings Bekanntschaft mit den östlichen Philosophen ging auf persönliche Gespräche mit dem Übersetzer Richard Wilhelm zurück, der eine Schlüsselfigur der deutschen China-Rezeption der zwanziger Jahre war. Seine Übertragungen machten die philosophischen Klassiker "Yijing" (I Ging) und "Daodejing" (Tao te-king) bekannt (die auch Hermann Hesse und Alfred Döblin lasen). [24] Aber Richard Wilhelm wollte mehr als Übersetzer sein. Wie der Titel seines Erinnerungsbuches an fünfundzwanzig Jahre China-Aufenthalt sagt, wollte er "Die Seele Chinas" (1926) dem deutschen Publikum nahebringen. Denn die "chinesische Lebensweisheit (böte) Heilmittel und Rettung für das moderne Europa". Wilhelm lag daran, die China-Klischees des 19. Jahrhunderts - Erstarrung und Monotonie - abzulösen, was sicherlich gerecht gegenüber der beginnenden Wandlung "Jung-Chinas" (wie er sich ausdrückte) war. Seine Nachrichten von der chinesischen Ruhe des Seins, von den Gedanken der Harmonie von Gesellschaft und Individuum, von der ausgeglichenen Erdbewußtheit, wie sie in der chinesischen Architektur sich spiegele, trafen auf die gierige Aufnahmebereitschaft eines Publikums, das mehr an Sinnangeboten als an philologischen Untersuchungen interessiert war. [25]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[26] Carl Gustav Jung in: Chinesisch-deutscher Almanach. Frankfurt am Main 1931, S. 7-14, hier: S. 13. - Erwin Rousselle: Die Mythen der Meditation in China. In: Chinesisch-deutscher Almanach. Frankfurt am Main 1932, S. 20-46. - Ders.: Die Achse des Lebens. In: ebd., Jg. 1933, S. 25-43

[27] Norbert Jacques, Der Kaufherr von Shanghai. 1935, S. 142, 289

 

In dem von Richard Wilhelm in Frankfurt am Main gegründeten China-Institut wurde ein „Chinesisch- deutscher Almanach" herausgegeben (1927-35), der mit zahlreichen Übersetzungsproben und Informationen über chinesische Kultur sicher dazu beitrug, die Ergebnisse der deutschen Sinologie einer breiteren Öffentlichkeit bekanntzumachen. Mitgeliefert wurde ein erwartungsgerechtes Chinabild, etwa von Carl Gustav Jung in seiner Gedenkrede auf den 1930 verstorbenen Richard Wilhelm (1931). Dessen plötzlichen Tod deutete Jung aus einem krisenhaften Wie­deraufleben des von Wilhelm einst in sich verdrängten europäischen Menschen. Jung hielt der westlichen Desorientierung und Disharmonie Ideen, die nicht nur "zum Kopf , sondern auch "zum Herzen sprechen", entgegen, nämlich die "pflanzenhafte Naivität des chinesischen Geistes". Ausführliche Berichte von Erwin Rousselle, dem Nachfolger Wilhelms als Institutsleiter, über chinesische Meditationstechniken halfen zur Verbreitung dieses antirationalistischen Idealbildes. Es ist vielleicht kein Zufall, zumindest aber ein Symptom, daß sie gerade in den Krisenjahren 1932/33 erschienen, als man in Deutschland von der Rationalität nichts mehr zu erhoffen schien. [26]

Natürlich gab es gleichzeitig noch ein Weiterwirken abgeschliffener Chinabilder, besonders in populären Unterhaltungsromanen. Als Beispiel wäre Norbert Jacques' "Der Kaufherr von Shanghai" (1925) zu nennen, wo das "Asiatische" zum plumpen "Zauber", zur Kenntnis geheimnisvoller Naturkräfte bei fremden Rassen verplattet wird, und dessen Schluß lautet: "Es war alles ein böser Zauber in diesem Land. Komm, wir fliehen. [27] Die eigentlich "Bösen" sind hier übrigens die Japaner, denen in diesen Jahren nur selten literarische Gerechtigkeit widerfuhr, wie etwa in Heinrich Eduard Jacobs hübschem Roman "Jacqueline und die Japaner" (1928), in dem der Gegensatz zwischen den Kulturen zum reizvollen ästhetischen und psychologischen Spiel wird. Als eine reine Allegorie europäischer Probleme erscheint China in Walter Meckauers Roman "Die Bücher des Kaisers Wutai" (1928), dem Oskar Loerke schon im Vorwort bescheinigte, daß der Verfasser hier "Sinn und Not" der deutschen Gegenwart deutete. Vom expres­sionistischen Vater-Sohn-Konflikt bis zum Zusammenstoß von Traditions­bewahrung und sozia­ler Revolte werden deutsche Gegenwartsprobleme chinesisch maskiert. Auch der Schluß, das Heil in der "grünenden Erde" zu suchen, verweist auf deutsche Motive im Kontext einer heimatsuchenden Literatur.

 

[28] Friedrich Wolf zit. bei Felbert, a. a. 0., S. 63; zur proletarischen China-Literatur s. Felbert, S. 60 ff.,zu Kisch S.132 ff.

[29] Über Heinz Neumann und den Kantoner Aufstand 1927 s. Margarete Buber-Neumann: Von Potsdam nach Moskau. Stuttgart 1958, S. 175 ff. über Neumann und Otto Braun s. Immanuel C. Y. Hsü: The Rise of Modern China. Hongkong 1983, S. 554, 559. - Kontakte zu Chinesen in Moskau beschreibt Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Hamburg 1969, S. 350 f. Weitere Informationen über solche Kontakte erhielt ich dankenswerterweise von den Augenzeuginnen Hedda Zinner-Erpenbeck (Berlin) und Eva Xiao (Peking).

[30] K. Baer: Gesang des chine­sischen Volkes. In: Interna­tionale Literatur, H. 5, 1938, S. 56 f. - Der mit einer Deutschen verheiratete und auf dem Pariser Kongreß zur Vertei­digung der Kultur 1935 mit einer Rede hervorgetretene Chinese Emi Sjao (Xiao) (vgl. Alfred Kantorowicz: Politik und Literatur im Exil, 1978). München 1983, S. 208 f.) schrieb die Erzählung: Tsian Tso-Ming schwieg. In: Internationale Literatur, H. 4, 1938, S. 72-77. - Klara Blum: Hieroglyphen an der Kerkerwand. In: Internationale Literatur, H. 9, 1939, S. 118. - dies.: Das heldenhafte China. In: Deutsche Zeitung (Moskau), 9. Januar 1939, Nr. 7 (3099), S. 3

[31] Klara Blum: Die Ahnenfeier der Familie Li. In: Internationale Literatur, H. 9, 1939, S. 116 f. -dies.: Brief nach Schensi, in: Internationale Literatur, H. 8, 1940, S. 44 f.

Solche Romane waren sicher am weitesten entfernt von dem wirklichen Bürgerkriegs-China der zwanziger Jahre, über das Berichterstatter wir Arthur Holitscher ("Das unruhige Asien", 1926), Egon Erwin Kisch ("China geheim", 1933) oder auch Sinologen wie Karl August Wittfogel ("Das erwachende China", 1926) informierten. Zu einem dokumentarischen Roman verarbeitete der sowjetrussische Schriftsteller Sergej Tretjakov die Erlebnisse eines revolutionären chinesischen Studenten ("Den Schihua", deutsch 1932). Diese Autoren schreiben ganz bewußt an einem Gegenbild zu dem total ins Geistige erhobenen China des Asien-Booms der zwanziger Jahre. Bei ihnen lebt die jesuitisch-aufklärerische, die jungdeutsch-despotismus-kritische Tradition wieder auf, nun mit proletarisch-internatio­nalistischen Vorzeichen. "China" ist wieder das Feld für Staats- und Gesell­schaftsutopien, nun aber solcher, die weltweit und revolutionär verwirklicht werden sollen. Eingebunden in die propagandistische Strategie der Komintern - in der in Moskau erscheinenden Zeitschrift "Internationale Literatur" wurde 1932 zur Auseinandersetzung mit China aufgerufen werden sozialkritische Berichte, Agitationsdramen und -gedichte (von Hugo Huppert, Sergej Tretjakov, Friedrich Wolf) veröffentlicht. Das Interesse am Fortschritt führt dabei manchmal (wie bei Kisch) zur Ignoranz gegenüber den fremden Kulturen. Doch obwohl inhaltlich kaum ein schärferer Gegensatz vorzustellen ist, hat dieses Chinabild doch eines gemeinsam mit dem der Taoismus-Verehrer: Zur Erneuerung des Westens wird das Vorbild wieder im Osten gesucht. Friedrich Wolfs Drama "Tai Yang erwacht" (1930) war ausdrücklich dazu gedacht, "der deutschen gespaltenen Arbeiterschaft am Beispiel der tapferen chinesischen Klassengenossen einen Spiegel vorzu­halten". [28]

Der abendländische Gedanke der Selbstverwirklichung, der Suche entwurzelter Individuen nach dem Absoluten, das im Klima der zwanziger Jahre entstandene Motiv, die absurde Existenz heroischmännlich zu besiegen, das ist auch das eigentliche Thema der "chinesischen" Romane von Andre Malraux, die sofort nach Erscheinen auch ins Deutsche übersetzt wurden. "Les Conquérants" (1928) erhielt den typischen Titel: "Die Eroberer. Rote und Gelbe im Kampf um Kanton" (1929). "La condition humaine" (1933; deutsch: "So lebt der Mensch", 1934) konnte wegen der politischen Sympathie für kommunistische Chinesen nur in Zürich auf Deutsch erscheinen. Das Chinesische bildet für Malraux 'letztlich nur Kolorit für ein philosophisches Thema, für einen sehr abendländischen, individuellen Heroismus. Als deutsches Gegenstück wäre allenfalls der Roman "China frißt Menschen" (1930) des Dada-Mitbegründers Richard Huelsenbeck zu nennen. Wie in Malraux' "Eroberern" ist ein Streik im Kanton der zwanziger Jahre das Thema, doch Huelsenbecks Helden sind weniger revolutionäre Aktivisten als Getriebene. Sie verlieren ihr europäisches Ich an die fremde Exotik, und diese Bewußtseinsaufgabe wird - häufiges Motiv in jener Zeit - durch die Opiumsucht versinnbildlicht (eine literarisch ausgeglichene Gerechtigkeit für die reale Opium-Invasion nach China im 19. Jahrhundert).

Die emigrierten deutschen Kommunisten in Moskau, die teilweise dort Kontakt zu chinesischen Kommunisten hatten, teils sogar eine nicht unbeträchtliche Rolle bei den Aktionen der Komintern in China spielten, setzten auf literarischem Feld die Ausgestaltung der Revolutionsutopie in China fort. [29] Seit sich die Kommunisten unter Mao Zedong am chinesischen Abwehrkampf gegen Japan beteiligten (1937), konnte China - wie Spanien - zu einer Art Ersatzkriegs­schau­platz künftiger Kämpfe werden. Leitmotivisch wurde das heldenhafte Kämpfen und Dulden der Chinesen - eine Chiffre für den nicht so erfolgreichen inner­deutschen antifaschistischen Widerstand? - in Erzählungen und Gedichten glorifiziert. [30] Nur bei der rumänien­eutschen Lyrikerin Klara Blum tauchten dabei persönlichere Perspektiven und eine engere Beziehung zu chinesischer Kultur auf. [31]

 

[32 vgl. Felbert, a. a. 0., S. 103 ff., 153 ff.

Statt zu einer Metapher des Kampfes stilisierte die deutsche Erfolgsautorin und freiwillige Frühemigrantin Vicki Baum China zum literarischen Exempel der Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit deutscher Exilanten. In dem Roman "Hotel Shanghai" (Amsterdam 1939) gehen Chinesen und Europäer gemeinsam an einer japanischen Bombe zugrunde, Symbol einer bedrohlichen Situation, die nicht nur jüdischen Emigranten in diesen Jahren ausweglos erschien.

In der Literatur des Dritten Reiches kam China nur eine Nebenrolle zu. Die Bedürfnisse nach Mystik und politischer Utopie sollten von der offiziellen Reichs- und Rassenideologie befriedigt werden. Eine unterschwellige Sympathie für das - ebenfalls zu Weltkriegs-Verlierern gehörende - China bestimmte die Reisebücher solch anpassungswilliger Autoren wie Klaus Mehnert oder Friedrich Sieburg ("Die stählerne Blume", 1939). Dagegen kann der Roman "Opiumkrieg" (1939) des Österreichers Rudolf Brunngraber mit einem gewissen Recht der inneren Emigration zugerechnet werden. Das Propaganda-Ministerium ließ das Buch zwar gezielt zum Zeitpunkt des englischen Kriegseintritts (September 1939) erscheinen, und sein Thema - die Denunziation des englischen Profitinteresses im Opiumkrieg - schien es "für den gegenwärtigen politischen Einsatz" (so eine Rezension) bestens geeignet zu machen. Die Art aber, wie Brunngraber seinen Gegenstand, Chinas militärische "Öffnung" 1840 bis 42, anpackte, machte aus dem historischen einen kultur­ritischen und - verschlüsselt - politischoppositionellen Roman. Denn bei Brunngraber siegt Technik über Tradition und Machtinteresse über Kultur. Dabei wird die moderne Kriegsmaschine, die nur auf Effektivität ausgerichtete westliche Sachlichkeit deutlich ins Unrecht gesetzt gegen­über einer alten Kultur, die zum hilflosen Opfer bestimmt ist. In der Beschreibung dieser Kultur bedient sich Brunngraber mancher topoi aus der deutschen Chin-Literatur, wenn er etwa seinen Helden, den chinesischen Beamten Lin, ähnlich wie Hesse seinen Siddharta, als Eremit zur "Einkehr der Seele" finden läßt. Doch Brunn­graber gestaltet mit einer Mischung aus sachlichem Realismus und politischem Fatalismus weder ein kulturelles Fluchtideal noch eine Widerstandsutopie. Die Zerstörungskraft der schrecklich effizienten europäischen Moderne in ihrer Kombination von Technik und Ökonomie scheint unaufhaltsam. Das breite Leserinteresse an diesem in den vierziger Jahren sehr erfolgreichen Roman, dessen letztlich pessimistischer Zug unübersehbar war, bliebe noch zu interpretieren.

Erst aus dem Nachlaß bekannt wurde dagegen Bertolt Brechts im Exil entstandenes Fragment vom "Tui-Roman". Diese bittere Satire auf die Intellek­tuellen als Meinungsverkäufer steckt die Geschichte der Weimarer Republik und der Machtergreifung 1933 in ein durchsichtiges chinesisches Kostüm: Hitler ist "Hu-ih" und Friedrich Ebert wird als "WeiWei" der Lächerlichkeit preisgegeben. Brechts manchmal zynisches Fragment erschöpft sich nicht im Hohn auf Sozialdemokraten oder die Philosophen des Frankfurter Instituts für Sozial­forschung, sondern denunziert die Indienstnahme der Intelligenz für Macht­interessen überhaupt. Motive der deutschen literarischen China-Tradition verwendet Brecht nicht, doch könnte man manche Passagen als Parodie auf den barocken Sprachgestus von Döblins "Wang-lun" lesen. [32] Nur bei den Satiren der Aufklärung oder den Staatsromanen des 18. Jahrhunderts findet sich ein ähnlich reiner, bewußter Charakter einer politischen Parabel im chinesischen Gewand.

 

[33] Max Frisch: Bin oder die Reise nach Peking. Frankfurt am Main 1979, S. 87, 83

 

 

 

[34] Chen Huimin: Fremde Länder

 als Mittel der Verfremdung. Eine Studie über ein zentrales Stilmittel in den Werken von Max Frisch. Arbeit zur Erlangung des Magistergrades der Deutschen Fakultät des Fremdspracheninstitutes Shanghai. Guangzhou 1984 (Typoskript), S. 40 f.

 

 

 

 

 

[35] Chen Huimin, a. a. 0., S. 50 f.

Auf ganz andere Art unwirklich ist das China, das Max Frisch in seinem Prosastück "Bin oder die Reise nach Peking" (1945) beschreibt. Er macht gerade die Sehnsucht nach einer Gegenwirklichkeit zum Thema seines Buches, allerdings ist diese nun ganz unpolitisch gemeint. Ausbruch aus dem Alltag, Abstreifen der sozialen Rolle sind die dominierenden Themen: "In Peking, denke ich, können all solche Dinge nicht vorkommen, die jeder von uns kennt, so daß sie ihm in der Galle liegen. Hier ist alles anders." Diese Andersartigkeit meint, und da kommen wieder bekannte Motive ins Spiel: Muße, Frieden, Höflichkeit, Schönheit. Das chinesische Ambiente wird nur durch dekorative Gegenstände evoziert: Bambus, Büffel, Pfirsichblute, Seide. Das Kollektivklischee von den "Ameisen" dreht Frisch einfach um: "Ich weiß nicht, wessen Sklaven wir sind. Wir leben wie die Ameisen, drüben im Abendland. (. . .) Wir nennen es die Wochentage. Das heißt, jeder Tag hat seine Nummer, und am siebten Tage läuten die Glocken; dann muß man spazieren und ausruhen, damit man wieder von vorne beginnen kann. [33] Charakteristischerweise kann die Sehnsucht aber kein Ende, kann ihr Ziel nicht finden. Das Fremde entpuppt sich schließlich als schon bekanntes Eigenes, das chinesische Haus in Peking ist vom Erzähler selbst konstruiert. "Es wird in Bin nur gezeigt, was in einem sich zerrissen fühlenden Schweizer Bürger vorgeht, was er wünscht, sucht und erwartet. Der Leser wird (nicht nur) daran gehindert, sich wie in einem chinesischen Haus zu fühlen, sondern er denkt distanziert über das auf diese verfremdende Weise Gesagte nach. [34]

Geht Frisch hier auf die eine Traditionslinie des geistigen, positiven Chinabildes ein, so nimmt er die negativ-despotische Variante als Grundlage seiner Farce "Die chinesische Mauer" (1947). In Übernahme von Brechts Verfremdungs- Dramaturgie (und mit Anklängen an dessen dramatische Tui-Satire "Turandot oder der Kongreß der Weißwäscher") will Frisch vor der Willkür politischer Macht, vor der Gefahr eines Atomkrieges warnen. Wie in Brechts Drama die "chinesischen" Tugenden von Geduld und Entsagung als nützliche Ideologie entlarvt werden, so ist für Frisch der Kaiser Hwang-ti (Huangdi) das Urbild eines Tyrannen. Der simple Verfremdungs­echanismus wird aus chinesischer Perspektive so beschrieben: "So wie ein Europäer, der blonde Haare, blaue Augen und eine große Nase hat, unter den Chinesen im chinesischen Milieu ganz auffällig wirkt, sind die chinesischen Elemente (in Frischs Drama - TL) dem europäischen Zuschauer auch fremd, auffällig, merkwürdig. Für die Europäer sind die Figuren das Fremde, aber was sie zeigen, ihr Handeln ist das Eigene." [35]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[36] Klara Blum: Die Zukunft in der Gegenwart. Ein Bericht vom "Gro­ßen Sprung nach vorn" in Südchina. In: Neue Deutsche Literatur, April 1959, S. 53-64. Ganz ähnlich: Franz Carl Weiskopf: Reise nach Kanton. Berlin 1953

[37] Zum Leben ausführlicher: Thomas Lange: Emigration nach China: Wie aus Klara Blum Dshu Bailan wurde. In: Thomas Koebner, Wulf Köpke u. Joachim Radkau (Hrsg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 3. München 1985, S. 339-348

 

Die Gründung der kommunistischen Volksrepublik China im Jahre 1949 bedeutet in literarischer Hinsicht zwar einen Wandel, doch beileibe nicht das Ende der Metaphernbildung. Die Abschließung des Landes vom Westen einerseits, die fortwirkende, von literarischen Traditionen geprägte Sichtweise andererseits brachten eine politische Akzentuierung mit sich, hinter der die alten Metaphern weiterlebten. Das Geheimnis des Ostens war nun in das Rätsel der Massenkampagnen Maos verlagert, und auch die Hoffnung auf politische Utopie schien sich - wieder einmal- dort, weit weg, zu erfüllen.

In den fünfziger Jahren erschienen in der DDR zahlreiche Berichte über das neue China, die das sozialistische Hoffnungsbild aus den Tagen des Moskauer Exils fortsetzten. Da ist immer viel von Fortschritt, ja sogar von der "Zukunft in der Gegenwart" die Rede. Diese realisierte Zukunft schien ohne Ausradieren der alten, seltsamen Kultur nicht denkbar zu sein.[36] Dort schien möglich zu sein, was im komplizierten Europa so geradlinig doch nicht denkbar war: Das gute, einfache Volk fegt die korrupten alten Herren hinweg (so schildert es etwa Susanne Wantoch in "Na Lu. Die Stadt der verschlungenen Wege", 1949). Beträchtlich mehr Differen­ierung und Aufmerksamkeit für kulturelle Differenzen sind dagegen in Klara Blums autobiographischem Roman "Der Hirte und die Weberin" (1951) zu spüren. Die Autorin, die schon im Moskauer Exil Außenseiterin gewesen war [37], stellt sich ihrer Erfahrung der Begegnung mit der chinesischen Kultur, - und die war zur Idealisierung ungeeignet. Auf der Suche nach ihrem Geliebten, einem chinesischen Kommunisten, der 1939 in Moskau unter ungeklärten Umständen "verschwunden" war, kam sie 1949 nach Shanghai. In dem einzigen deutschen Roman, der Bürgerkrieg und Sieg der Kommunisten darstellt, schildert sie sowohl die von Intrigen vergiftete Moskauer Exilzeit wie ihre Erfahrung, auch als "anti-imperialistische" Schriftstellerin von den Chinesen zurückgewiesen zu werden: Weil sie eine "Weiße" war. Gegen diese Verweigerung ertrotzt sich Klara Blum - man muß es so nennen die Identifikation mit dem fremden Land und mit einer Kultur, zu der sie eine innere Verwandtschaft empfindet. Psychologisch war diese Identifikation sicher der Versuch einer identitätsstabilisierenden Selbstrettung; literarisch gesehen ist es eine der wenigen Bemühungen, sich das Chinesisch-Andere im Vergleich mit dem Eigenen bewußt zu machen.

 

[38] Klara Blum: Der Hirte und die Weberin. Ein Roman aus dem heutigen China. Rudolstadt 1951, S. 80, 84, 252, 271, 279

 

[39] z. B. Peter Kuntze: China - Revolution in der Seele. Frankfurt am Main 1977, S. 10. - Frank Thiess: Plädoyer für Peking. Stuttgart 1966

[40] Eine beißende Abrech­ung und Analyse der "from­men Pilgerfahrten" nach China bei Pascal Bruckner: Das Schluchzen des weißen Mannes. Europa und die Dritte Welt. (Franz. 1983). Berlin 1984, S. 37 ff.

[41] Solche Schwierigkeiten bei Joachim Schickel: Im Schatten Mao Tse-tungs. Chinas nahe Geschichte. Frankfurt am Main 1982

[42] Einige typische Titel: Josephine Zöller: Das Tao der Selbstheilung (1984); Wen L. Hwang: Das große Tao Kochbuch (1981); Jolan Chang: Das Tao der Liebe (1978); Miyamoto Musashi: Das Buch der fünf Ringe (1984); Fritjof Capra: Das Tao der Physik (1975)

Die emigrierte Jüdin fühlt sich nicht nur als Angehörige eines unterdrückten Volkes den Chinesen nahe, sondern sie spürt auch eine tiefere Übereinstimmung in der uralten Verhaltenskultur, die beide Völker prägt. Klara Blums jüdische Heldin, Hanna Bilke gerät in eine merkwürdige Doppelrolle, wenn sie von Chinesen als "weiße Frau, die Tochter einer privilegierten Rasse" angesprochen wird. "Nebbich!" dachte Hanna. "Meine privilegierte Rasse!". Die Roman­handlung wird in Richtung einer altchinesischen Legende stilisiert (auf die der Buchtitel verweist). In der Figur des geheimnisvoll im Untergrund tätigen chinesischen Geliebten aber lebt auch das Klischee vom "undurchdringlichen China" wieder auf. Gegen Ende des Romans gerät der Annäherungsprozeß an China aber dann mehr und mehr ins Fahrwasser der traditionellen politischen Utopie: China wird zur "lebendige(n) Traumwelt". "Und wenn sie (Hanna Bilke - TL) starb, so kam es nicht mehr darauf an, ob sie eine Heldin war oder eine Närrin. Auf die schöne, noch unerschaffene Erde, die in ihren Träumen lebte - auf die allein kam es an. [38] In ihrem weiteren Leben und Schaffen verlor Klara Blum dann dieses Distanzbewußtsein. In ihren späteren chinesischen Erzählungen ("Das Lied von Hongkong" , 1959) und Gedichten, die unter dem angenommenen chinesischen Namen Dshu Bailan erschienen, wurde sie unbedingte Partisanin und Propagandistin des maoistischen China. Ein wenig erinnert dieser Anpassungs­prozeß der Klara Blum an die sinisierten Jesuitenmissionare des 17. und 18. Jahrhunderts.

 

Klara Blum lebte mit ihrer totalen Identifikation eine Haltung vor, die einer jüngeren deutschen Generation in den sechziger und siebziger Jahren, während der europäischen Studentenrevolte und deren Bedürfnis nach Identifikation mit einem politischen Hoffnungsträger, entsprach. Die chinesischen Massen, die sechzig Jahre früher abfällig "Ameisen" genannt wurden, werden nun von europäischen Linksintellektuellen zum beglückenden Kollektiv verklärt. Aus der jesuitisch-aufklärerischen Utopie wurde der Modellstaat der permanent mobilisierten Massen in der Kulturrevolution. Während im wirklichen China der traditionelle moralische Rigorismus konfuzianischer Herkunft in neuer Prüderie und Sittenstrenge weiter­ebte, suchten die deutschen Intellektuellen dort einen "neuen Menschen" [39], der überraschenderweise übrigens nicht nur von "linken", sondern auch von "rechten" Beobachtern vorgefunden wurde.[40] Nach der politischen Kursänderung von 1976 hatten alle solchermaßen engagierten Beobachter dann Schwierigkeiten, hinter dem von der Pekinger Propaganda mitgestrickten - Symbolvorhang eine ganz andere Wirklichkeit in China zu entdecken. [41] Freilich war auch die deutsche Wirklichkeit eine andere geworden, so daß ein neuer Ersatzschauplatz gesucht wurde. Es war, wieder einmal, der alte: China. Seit Ende der siebziger Jahre inflationierte das metaphysische Asien mit dem Schlüsselwort "Tao" den deutschen Buchmarkt. Vom "Tao-Kochbuch" über das "Tao in der Ehe" bis zum "Tao der Physik" blieb - Medizin und Börse eingeschlossen - kein Lebensbereich ohne Ratschlag zu neuem "Einklang mit der Natur". [42] Die rationale China-Metapher war noch einmal in ihr Gegenteil umgeschlagen.

 

 

 

 

 

[43] Peter Schneider: Lenz. Eine Erzählung. Berlin 1973, S. 29

 

 

[44] Günter Grass: Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus. Darmstadt/Neuwied 1982, S. 47

 

[45] Literarische Vorbilder wären z. B.: David Fassmann: Der auf Ordre und Kosten seines Kaisers reisende Chinese (1721); oder: Oliver Goldsmith: Der Weltbürger oder Briefe eines in London weilenden chinesischen Philosophen an seine Freunde im fernen Osten (1762)

 

[46] Adolf Muschg: Baiyun oder die Freundschaftsgesellhaft. Frankfurt am Main 1980, S. 43 f.

[47] Muschg, a. a. 0., S. 236

 

Gegenüber dieser populären Welle der Vermarktung asiatischer "Geheimlehren" oder der abenteuerlichen Romantisierung der "Öffnung" Chinas in internationalen Bestsellern (James Clavell: "Taipan") wahren nur wenige Autoren etwas Skepsis. Die Absage an die linke Idolisierung Mao Zedongs und zugleich an die darin übernommene (oder wiedergefundene) puritanische Komponente klingt in Peter Schneiders Studentenroman "Lenz" an, in dem Mao als "chinesischer Heiliger" [43] ironisiert wird. Günter Grass' romanhafter Reisebericht "Kopfgeburten" (1980) sucht immer wieder neue Annäherungen an die chinesische Gegenwart und findet sie überraschend darin, daß dort wie hier die Mächtigen sich verächtlich über die kritischen Schriftsteller, "die unruhig seßhaften Nestbeschmutzer", äußern. "Das war nicht fremd oder zu weit weg. [44] Die so oft idealisierte chinesische Vergangenheit taucht in der fiktionalen Literatur zunehmend nur als Spiel auf: Als Entmytho­ogisierung des Taiping-Aufstandes in Erwin Wickerts "Der Aufstand des Himmels" (1961) oder als Wiederaufnahme der im 18. Jahrhundert erfundenen Kunstfigur des reisenden Chinesen, der Herbert Rosendorfer als Prisma moralisierender Kulturpolitik dient ("Briefe in die chinesische Vergangenheit", 1983).[45]

Auch Adolf Muschgs Roman "Baiyun oder die Freundschafts­gesell­schaft" (1980) treibt dem Ernst der europäisch-chinesischen Konfrontation ein perspektiven­reiches Spiel. Was Europäer da über China mutmaßen, sind immer auch Vermutungen über die Europäer. China tritt als das "andere" dem Besucher fast tautologisch entgegen. Ein Gespräch auf der Großen Mauer: "Hie China. Dort drüben alles andere. Das Reich der Mitte. Und der Rest der Welt: Randgebiet.... Es gibt nur einen Grund, drinnen zu bleiben, einen einzigen. - Nämlich? Wenn man Chinese ist, sagt Samuel. [46] Die zeitgemäße Sehensweise durch Photo­graphie, die nur oberflächlich genauer zu sein scheint als verbale Beschreibung, wird selbstironisch kommentiert: "Da kommen unsere Dossiers. . . Jetzt würde sich zeigen, ob sich die Reise gelohnt hatte; ob die Zuhause­gebliebenen glauben würden, daß man in China gewesen war, und zwar mit guten Motiven. [47] Doch so unterschiedlich wie die Vorstellungen der Daheim­gebliebenen sind auch die photographierten Wirklichkeitsausschnitte der Reisenden.

Muschgs Spiel mit den Perspektiven ist bei der offen eingestandenen Unsicherheit über das "Wesen" Chinas und dem (sicheren, aber anderen) Wissen über die Europäer und ihre Wunschvorstellungen angekommen, das schon Victor Segalen in seinem Roman "Rene Leys" (1922; deutsch erst 1982) virtuos vorgeführt hatte. Dieses Zwischenreich scheint das lohnende Feld der europäischen China-Literatur zu werden, nachdem die Darstellung Chinas seit einigen Jahren durch die neuere chinesische Literatur selbst übernommen wurde.

 

 

 

 

 

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Th. Lange

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*Wolfgang Kubin (Hg.), Mein Bild in deinem Auge – Deutsch-chinesische Spiege­lungen im 20. Jahr­hundert, Kollo­quium der Universität Bonn, 21.-23.5.1990, Darm­stadt (WBG) 1995

In den 80er Jahren wurde zunächst in Frankreich, in den USA und dann auch in Deutschland das Werk des 1919 verstorbenen Exotismus-Schriftstellers Victor Segalen wieder entdeckt, bzw. überhaupt erst entdeckt weil erstmals vollständig editiert. Eine Welle von biographischen und analytischen Studien und Dissertationen folgte in Frankreich und den USA. Die Frage, was Exotismus in Kunst und Literatur eigentlich ist und ob darin eine Befreiung vom euro­zentrischen und damit (post‑) kolonialen Blick überhaupt möglich sei, war u.a. Gegenstand eines 1990 von dem Bonner Sinologen Wolfgang Kubin organisierten Kolloquiums zum deutsch-chinesischen wechsel­seitigen Exotismus.* Thomas Lange hielt dort einen Vortrag „Exotische Wahlverwandtschaften – Dshu Bailans jüdisches China“ (S.187-218) (Dshu Bailan = Klara Blum, siehe auch im obigen Artikel von Th. Lange), Wolfgang Geiger präsentierte „Victor Segalens Exotismuskonzeption und ihre Bedeutung für die heutige Forschung“ (S.43-81). Vier Jahre zuvor war der nachfolgend in über­arbeiteter Fassung präsentierte Artikel in der Zeitschrift Spuren veröffentlicht worden. Er stellt auch heute noch eine sinnvolle Einführung in das Werk Segalens dar. Die Überarbeitung des Textes umfasst einige redaktionelle Änderungen, eine Aktualisierung des Editions- und Forschungsstandes wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeliefert.

 

 

 

 

© 1986/2006

W. Geiger

Kontakt W.Geiger

Vom Reiz des Unverständlichen.

Victor Segalens Ästhetik des Fremden

von Wolfgang Geiger

 

Der Originaltext erschien in: Spuren – Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft, N°15, April-Mai 1986, S.35-36, 41-42.

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[1] Mircea Eliade, Im Mittelpunkt - Bruchstücke eines Tagebuchs, Wien 1977, Eintragung vom 15.06.1952

 

 

 

 

 

 

 

 

[2] Pierre Daix, Picasso, Ed. Somogy, Paris, dt. Ausg. 1981, 35

[3] cf. den gleichnamigen Beitrag von Manfred Schneckenburger im Katalog zur Ausstellung Weltkulturen und moderne Kunst während der XX. Olympiade in München 1972

[4] zit. nach Garaudys Picasso-Studie in: Roger Garaudy, Für einen Realismus oh­ne Scheuklappen - Picasso, Saint-John Perse, Kafka (geschr. 1963), Wien 1981, 12.

Der rumänische Religionsforscher Mircea Eliade stellte einmal fest, „dass nicht die Revolution des Proletariats das wichtigste Phänomen des 20. Jahrhunderts gewesen“ sei, „sondern die Entdeckung des nichteuropäischen Menschen und seiner geistigen Welt.“ [1] Auch wenn man diese Wertung in ihrer Rigorosität nicht unbedingt teilen mag, so ist daran jedenfalls wahr, dass die „Entdeckung“ fremder Kulturen seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf ein ebenso grundlegendes Problem von Geschichte und Gesellschaft auf Weltebene aufmerksam gemacht hat, wie dies die weitgehend immanent entstandene Kritik des Kapitalismus durch Marx, Engels und ihre Nachfolger tat. Noch bevor sich die „Neue Ethnologie“ den fremden Kulturen widmete, sorgten jedoch vor allem Künstler zu Beginn des 20.Jahrhunderts für Auf­sehen: durch ihre Rezeption der „Negerkunst“ und die Anwendung ästhe­tischer Prinzipien der „Primitiven“ in ihrer eigenen Kunst haben die Ver­treter der künstlerischen Avantgarde das europäische Weltbild an einem entscheidenden Punkt infrage gestellt: dem der Reproduktion von Wirk­lichkeit. Dies hat für die Kulturgeschichte eine ähnliche Bedeutung wie die Zerstörung des geozentrischen Weltbilds in der modernen Naturwissen­schaft durch Koper­nikus und Galilei. Allerdings mit dem Unterschied, dass dadurch das reale Verhältnis zwischen Europa und dem „Rest der Welt“ nicht grundlegend verändert wurde. Und trotzdem: Außer der Emanzipationsbewegung der Kolonisierten selbst spielte die von Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern seit Beginn des 20.Jahrhunderts eingeleitete Bewusstseinsveränderung in Eu­ropa vielleicht eine entscheidendere Rolle, als ihnen bisher zugedacht worden ist.

In diesem Kontext muss man den „ungeheuerlichen Vorgang“ werten, dass damals „zivilisierte“ Menschen anfingen, „wie die Wilden“ zu malen. Die Avantgarde wurde zum Schrecken des Bildungsbürgertums. In Picassos „Demoiselles“ zum Beispiel sah man allenthalben „Negerköpfe“, wo gar keine waren, denn die lebendigen Vorbilder besagter Damen waren in Avignon zuhause und ebenso französisch wie der entsetzte Betrachter dieser Bilder - Picasso hatte ihre Gesichter nur im Stil afrikanischer oder ozeanischer Masken gemalt. Die Proportion stimmte nicht mehr. Damit hatte er das Sakrileg begangen, gegen die „konventionelle Darstellung ei­nes nach dem Ebenbilde Gottes geschaffenen Menschen“ vorzugehen, wie es Pierre Daix treffend charakterisierte [2]. Mit der „afrikanischen Proportion“ [3] sollte das Dogma des Realismus in der abendländischen Kunst bekämpft werden – und mit dem Realismus wollte man auch die Realität einer als dekadent empfun­denen bürgerlichen Welt umkrempeln. „Unsichtbares sichtbar machen“, wie es Paul Klee einmal formulierte – Ent-fremdung durch Ver-fremdung visualisieren, dies war ein Programm, das Grundlegendes infrage stellte. Zu keiner Zeit zuvor hatte Kunst einen so politischen Anspruch und zu keiner Zeit hat sie wohl mehr bewirkt. Man stelle sich vor, wie Carl Gustav Jung nach der Analyse einer Picasso-Ausstellung in Zürich folgende „Diagnose“ über Picassos Kunst traf: „Ty­pischer Ausdruck einer Schizophrenie.“ [4]

 

[5] Schneckenbutger, op. cit., 485

[6] Fritz Kramer, Verkehrte Welten - Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahr­hunderts, Frankfurt/M. 1981, 29

Die Künstler, die sich so für die „primitive“ Kunst begeisterten, um sich de­ren Expressivität anzueignen, kamen freilich erst allmählich zum echten Verständnis für den kulturellen Hintergrund der fremden Völker, die diese Kunst hervorgebracht hatten. Selbst für den aufgeschlossenen Europäer der damaligen Zeit, dessen Vorstellung von der rechten Proportion in der Kunst eine „Verschmelzung von Anatomie und Idealität“ war [5], musste die Welt unverständlich sein, aus der solch eine afrikanische oder ozeani­sche Maske kam. Die europäische Kunst hatte es bis dato nicht einmal fer­tig gebracht, die Fremden nach dem eigenen ästhetischen Maßstab – dem europäischen –, nämlich realistisch darzustellen! Es bedurfte dazu eines Malers, der von Europa Abschied genommen hatte: Paul Gauguin. „Gauguin ist es zum ersten Mal gelungen, die polynesische Physiognomie und Gestik darzustellen.“ [6]

 

[7]  Victor Segalen, Die Ästhetik des Diversen - Versuch über den Exotismus, Frankfurt/M. und Paris 1983, 55

 

 

 

 

[8] Kramer, op. cit., 97

[9] Brief vom 29.11.1903, in: Victor Segalen, Paul Gauguin in seiner letzten Um­gebung/Die zwei Gesichter des Arthur Rimbaud, Frankfurt/M. und Paris 1982, 16

Einer der ersten europäischen Schriftsteller – vielleicht sogar der erste, der sich vornahm, fremde Kulturen im doppelten Sinn des Wortes zu „er­fahren“ und diese Erfahrung in Literatur umzusetzen ohne sich wie die Kolonialschriftsteller zum „Zuhälter des Exotismus“ zu machen [7], war der französisch-bretonische Marinearzt Victor Segalen. In ärztlicher Mis­sion 1903 in die Südsee gekommen, wurde er mit dem Elend der unterge­henden Kultur der Polynesier konfrontiert: Die Maori waren im Begriff nicht nur psychisch sondern auch physisch zugrunde zu gehen – an europä­ischen Krankheiten, europäischem Alkohol, der Zerstörung ihrer traditio­nellen Lebensgrundlagen durch die Europäer und nicht zuletzt aus dem daraus resultierenden mangelnden Lebenswillen der Maori selbst. Aber Segalen empfand mehr als nur Mitleid und schlechtes Gewissen als Europäer. Wie eine Offenbarung traf ihn Paul Gauguins Nachlass, dem sich Segalen, wenige Wochen nach Gauguins Tod auf den Marquesas ange­kommen, annahm. Gauguin hatte sich nicht nur persönlich und politisch gegenüber den Kolonial­behörden für die Maori eingesetzt, sondern auch versucht, ihre Welt in seiner Kunst, den Gemälden und Holzskulpturen, wieder zum Leben zu erwecken. Sein künstlerisches Werk ist daher nicht nur ein Meilenstein auf dem Weg zur modernen Kunst des 20. Jahrhun­derts (in Europa), sondern auch zum authentischen Verständnis fremder Völker. Man kann Gauguins Versuch, sich ästhetisch in die polynesische Kultur einzufühlen und einzuführen, „rückblickend in der Perspektive der ethnographischen Erfahrung interpretieren“. [8] Wichtiger noch war für Segalen jedoch Gauguins schriftliche Hinterlassenschaft: „Ich kann be­haupten“, schrieb Segalen in einem Brief, „von diesem Land und den Mao­ri nichts gesehen zu haben, bevor ich nicht Gauguins Skizzen durchgeblät­tert und gleichsam nacherlebt habe.“ [9]

Victor Segalen und Polynesien

 

 

 

 

 

 

[10] dt. Die Unvordenk­lichen, 1986.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[11] Gustav Landauer, Skepsis und Mystik - Versuche im Anschluß an Mauthners Sprach­kritik (1903), Münster/ Wetzlar 1978, 3

Segalen beschloß, den Gauguinschen Ansatz aufzunehmen und litera­risch umzusetzen. Aus allen mündlichen und schriftlichen Zeugnissen, de­rer er vor Ort und in den Bibliotheken habhaft werden konnte, versuchte er während seines Aufenthalts in der Südsee 1903/04 und in den Jahren da­nach die Kultur der Polynesier, ihre geistige und materielle Welt von vor der Kolonialisierung zu rekonstruieren. Neben einer Studie über die Maori-Musik, Essays über Gauguin und die Maori und kleineren Novellen entsteht daraus vor allem ein Roman, der bis heute seinesgleichen sucht: Les Immémoriaux („Die Unvordenklichen“ oder „Die Gedächtnislo­sen“) [10]. Darin wird der Beginn der geistigen und materiellen kolonialen Unterwerfung Tahitis aus der Sicht eines Tahitianers erzählt. Außer dem Verhalten der Europäer auf Tahiti werden auch die „vergessenen Zeiten“ der Maori erzählt, vermittelt über die „vergesse­nen Worte“, die orale Erzähltradition, deren System in die Erzählstruktur des Romans direkt eingearbeitet ist. In dieser Erzähltradition konzentrier­te sich die ganze kulturelle Identität der Tahitianer, der Roman rekon­struiert diese Maori-Welt zum Zeitpunkt ihrer Erschütterung von innen und außen; die Europäer treffen nämlich auf eine bereits krisenhafte Kultur. Dies äußert sich unter anderem darin, dass der Held, Terii, ein ange­hender Priester (haere-po), sich beim rituellen Rezitieren der Genealogien der Inselgeschichte verheddert – das heißt, die „Worte verliert“. Mit dem Verlust der Worte gerät alles in Unordnung. Die Moral, die Segalen seinem Roman zugrunde gelegt hat und auch sein späteres Werk bestimmt, er­scheint so einfach wie bestechend: die Menschen können ihrer Kultur nur wirklich entfremdet werden, wenn diese selbst schon geschwächt ist. Hät­te Cortes mit seinen hundert Soldaten das Aztekenreich so einfach zerstö­ren können, wenn ihn der unglücklichste Zufall der Weltgeschichte nicht zum Gott Quetzalcoatl gemacht hätte, den man just in dem Moment in­brünstig erwartete, als die spanische Flotte kam. Hätte Pizarro das riesige Inkareich so schnell erorbern können, wenn die herrschende Dynastie dort nicht gerade in einem tödlichen Bruderkampf gelegen wäre? Dem verderblichen Einfluß von außen stellt Segalen jedenfalls eine innere Schwäche als Pendant gegenüber; da die Geschichte und Identität der Ta­hitianer nur in ihrer oralen Form bestand, stirbt sie mit dem Gedächtnis­verlust und der Akkulturation ihrer Priester - „denn wenn das Wort getötet ist: was soll dann noch stehen bleiben?“ Diese von Gustav Landauer in seinem Essay über Mauthners Sprachphilosophie [11] zufällig zum selben Zeitpunkt formulierte Frage, als Segalen auf Tahiti war, könnte direkt als Epigraph über Segalens Roman stehen.

 

[12]  cf. Erich Scheur­mann, Der Papalagi - Die Reden des Südsee­häuptlings Tuiavii aus Tiayea (1920), Zürich 1977

[13] Segalen, Ästhetik des Diversen, op. cit., 46

[14] Brief an Georges-Daniel de Montfreid, 12.06.1906, zit. nach: Henry Bouillier, Victor Segalen, Paris 1961, 94

Segalens Roman ist mehr als nur ein vorweggenommener „Papalagi“, er richtet sich nicht nur an den europäischen Leser wie die „Reden des Südseehäuptlings Tuiavii aus Tiavea“ [12], der nur formal zu seinen Landsleu­ten spricht. Immerhin hat die Académie Tahitienne Se­galens Buch in tahitianischer Übersetzung an herausragender Stelle in ihr Programm zur „Verteidigung der Sprachen und Kulturen Französisch-Polynesiens“ aufgenommen; auch wenn darin gleich mehrere neokoloniali­stische Purzelbäume geschlagen wurden, muß man Segalens Roman und seine damit verfolgte Absicht als gelungen betrachten. Segalen hat seinen Anspruch an einen anti-:kolonialistischenExotismus“ als „direkte Darstel­lung des exotischen Stoffes mit Hilfe einer Übertragung der Form“ [13] meisterhaft eingelöst. „Ich habe versucht“, stellte er fest, „die Tahitianer so zu beschreiben', wie Gauguin sie sah, bevor er sie malte: in sich selbst, und von innen nach außen.“ [14] So daß es hier schwerfällt, an dieser Stelle eine Passage aus dem Buch einfach aus ihrem Zusammenhang zu reißen. Zur besseren Erläuterung eines der im Roman angesprochenen Themen er­scheint es dennoch angebracht.

 

[15]  Victor Segalen, Les Immémoriaux, Plon, Paris 1982, 23f. [Übers. W.G.].

„Als er wieder zu seinem fare (seiner Hütte) zurückkam, bemerkte Terii hinter dem Bambusgitter flüchtig einen ängstlichen Schatten, den seine Ankunft in die Flucht schlug. Er erkannte, daß seine Frau sich wieder ein­mal von sich aus irgendeinem Piritane (einem Briten) hingegeben hatte. Denn sie hielt eine funkelnde Axt in Händen, die sie als Preis für ihre Umar­mungen gefordert hatte, und über deren raschen Erwerb sie sich freute: ih­re Mutter ging den Männern mit der bleichen Haut schon für eine Hand­voll Nägel nach.

Aber der haere-po war verstört. Bisher stand es ihm zu, nach seiner Maß­gabe darüber zu verfügen, wo sich seine Gefährtin herumtrieb: und Tau-mi, beschmutzt durch diese unerlaubte Herumtreiberei, konnte nun keine Trägerin der Lose mehr sein. Er schlug sie also heftig und drohte ihr mit Angst einflößenden Worten. Sie lachte, erjagte sie davon. Nachdem er seine Wut und seinen Verdruß auf diese Weise deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, beruhigte sich Terii. Dann machte er sich auf die Suche nach einer neuen Braut für die Nacht und für noch viele weitere Nächte.“[15]

 

[16] Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde ..., folio, Paris 1982, 276; cf. auch : [17]

[17] Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick - Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Berlin 1981, 213

Diese Passage ist Teil des ersten Kapitels, wo die Briten auf Tahiti Fuß fas­sen. Mit sehr viel Fingerspitzengefühl gelingt es Segalen, das älteste Süd­seeklischee auf eine Weise anzugehen, die nicht von der europäischen Sicht auf Moral und Sexualität befangen ist. Die Ankunft der Missionare veranlasst Terii und seinen Meister Paofai, verschiedene Zauberrituale zu zelebrieren, um die Fremden und ihre Götter wieder zu vertreiben. Unter anderem soll Taumi, Teriis Frau, von Paofai mit einem Zauber ausgestat­tet, sich den Fremden hingeben und sie dadurch bannen. Die oben zitierte Passage erzählt, wie Taumi dieses Vorhaben vereitelt, sie kann dadurch nicht mehr „Trägerin der Lose“ sein.

Segalens Beschreibung der Beziehungen zwischen Maori und Europäern offenbart eine sehr tiefgründige Analyse. Während es am Tage die christli­che Moral verbietet, die Gast­freund­schaft der tahitianischen Frauen wahr­zunehmen, die an die Fremden zunächst in bester Absicht herangetragen wird, kommt die wahre „Moral“ der Europäer nachts zum Zuge: Es ist der Kauf der Ware Frau bzw. deren Dienstleistung, der den Verkehr zwischen Einheimischen und Europäern bestimmt. Segalen läßt aufTahiti keines­wegs die „Freizügigkeit des Goldenen Zeitalters“ [16] herrschen, wie es sich die Seefahrer seit Bougainville in ihren Tagträumen aus­gemalt und in der Nacht erkauft haben und wie es sich im immer noch aktuellen Südsee­mythos niedergeschlagen hat. „Gerade mit dieser Erklärung des Verhal­tens der Tahitia­nerinnen“, schreibt Karl-Keinz Kohl über Bougainville, „verdeckt er das auch von ihm wahr­genommene, seinem eigenen Wunschbild einer von äußeren Zwängen befreiten Sexualität aber offen­sichtlich zuwiderlaufende und daher unterdrückte eigentlich Anstößige des Vorgangs, daß es sich bei ihm nämlich um nichts anderes handelte als um eine den Frauen von den Männern aufgezwungene Form der Prostitu­tion, deren Ziel es war, in den Besitz der begehrten euro­päischen Waren zu gelangen.“ [17]

 

 

Die eben erwähnte Szene von der Prostitution Taumis findet ihre Entspre­chung gegen Ende des Romans. Terii heißt jetzt Iakoba und ist vom heid­nischen Priester zum christlichen Pfarrer geworden, hat also seine Macht­stellung bewahrt und ist jetzt glühender Verfechter des „neuen Gesetzes“. Dieses umgeht er jedoch, als er seine Tochter Erena zum Schiff der Farani (der Franzosen) schickt, damit sie sich dort für eine Packung Nägel anbiete, welche Terii für die zu erbauende neue Kirche benötigt (sic!). Terii verstößt damit nicht nur gegen die Prinzipien seiner inzwischen von ihm selbst ver­leugneten eigenen Kultur, sondern auch gegen die christliche Moral, die er formal jetzt auf Tahiti vertritt. In Wirklichkeit jedoch, das kommt hier deutlich heraus, hat aber eben nicht das Christentum auf Tahiti Einzug ge­halten, sondern die Gesetzmäßigkeit des bürgerlichen Warentausches und der Verdinglichung der menschlichen Beziehungen – dies ist die wirk­liche Religion, die die Europäer auf Tahiti eingeführt haben.

Segalen war kein Soziologe und schon gar kein „Linker“; er war „nur“ ein scharfsinniger Beobachter mit einer tiefen Ablehnung jeder Form von Ko­lonialismus. Sein Anliegen, sich nicht zum „Zuhälter des Exotismus“ ma­chen zu lassen, das Fremde nicht zu verkaufen, bekommt im Licht des eben besprochenen Themas der Immémoriaux einen noch bedeutenderen Gehalt als nur den symbolischen: es ist wortwörtlich gemeint.

 

[18]  Victor Segalen, Der Sohn „des Himmels - Chronik der Tage des Herrschers, Frank­furt/M. und Paris 1983

[19]  Victor Segalen, René Leys, Frankfurt/M. 1982

Seine zweite große Erfahrung mit einer fremden Kultur machte Segalen in China, wo er 1909 bis 1914 lebte und das er dann noch einmal kurz 1917 besuchte. Als Dolmetscherschüler nach Peking gekommen, machte er ebenso schnelle Fortschritte im Erlernen der chinesischen Sprache und ih­rer Schrift wie im Sich-Eindenken in die chinesische Philosophie, vor allem in die Weltsicht des Taoismus. Der fünfjährige Aufenthalt im Reich der Mitte, den Segalen mit einer großen, das ganze klassische China der 18 Provinzen durchquerenden Reise 1909/10 begann und mit einer zweiten, durch den Kriegsausbruch in Europa 1914 an der Grenze zu Tibet abge­brochenen Reise unfreiwillig abschloß, wurde zur literarisch fruchtbarsten Periode im Leben Segalens, der bereits 1919 im Alter von 40 Jahren starb. In China schrieb er zwei große Romane, die auf unterschiedliche Weise den Niedergang des chinesischen Kaisertums thematisieren - zum einen aus der Sicht des letzten volljährigen Kaisers, der „während der Periode Kuang-Siü herrschte“ (moderne Transkription: Guangxu) und 1908 durch eine Intrige seiner Mutter umkam, in Der Sohn des Himmels [18]; zum anderen aus der Sicht des Europäers Victor Segalen, der sich selbst zum Erzähler seines (fiktiven) Tagebuchromans René Leys [19] machte und dort in einem komplexen Spiel aus Realität und Fiktion den Sturz der Dynastie 1911 er­zählt, vermittelt über die Entschlüsselung des Geheimnisses von Segalens Sprachlehrer, eines jungen, in China lebenden Belgiers namens René Leys, der sich als Geheimagent der Krone und Geliebter der Kaiserin-Wit­we (das heißt der Gemahlin des verstorbenen Kaisers aus „Der Sohn des Himmels“) entpuppt.

Segalen und China

[20] Brief an Claude Debussy, Peking, 06.06.1910, in: Segalen et Debussy, Mo­naco 1961, 113

[21] Brief an Henry Manceron,Tien-tsin, 23.10.1911, in: V. Segalen, Die Ästhe­tik des Diversen, op. cit., 76

Daneben hat Segalen eine reichhaltige „Reise-Literatur“ hinterlassen in der er ebenfalls versucht, von der alten, klischeehaften Reiseliteratur des Kolonialexotismus abzugehen und China, seine Landschaft und seine Menschen, vor allem aus sich heraus zu verstehen und zu beschreiben. Zur Meisterschaft seines über die Form vermittelnden Exotismus ist Sega­len jedoch zweifellos in seinen Prosa-Gedichten gekommen. Seine Stèles sind in verschiedener Hinsicht repräsentativ für sein Exotismusver­ständnis und seine Haltung zum alten und neuen China. Die Form dieser Gedichte hat er den Inschriften altchinesischer Grabstelen entlehnt, ihre Erstveröffentlichung durch Segalen 1912 in Peking, also ein Jahr nach dem Sturz der Monarchie, machen sie zur symbolischen Grabstele des alten China, dem letzten Land, in dem Segalen noch die Behauptung des Autochthonen gegen den Zugriff der Kolonialmächte sah, zumindest, was das Innere des Landes betrifft; so schrieb er unter anderem 1910 an Claude Debussy:

„Legt man an der Küste Chinas an, ist man zunächst in England: Hong­kong. Es ist schön, aber nicht das rechte. Man fährt weiter und kommt nach Shanghai, immer noch irritiert Jetzt ist es ein bißchen Amerika. Man fährt den Yangtse auf komfortablen house-boats hinauf und glaubt, in den 'gel­ben Kontinent einzudringen', und dann kommt Han-keu; obwohl sich auf der gegenüberliegenden Seite eine chinesische Provinzhauptstadt befindet, ist man dort wieder in England und Deutschland, das bekannte Lied.“ [20]

Und seinem Freund Henry Manceron, der ihm nachfolgen wollte, erteilte er im Jahr darauf den Rat:

„Verschwende keinen Augenblick an der Küste. Vergiß Shanghai und die Häfen am Unterlauf des Stroms. Chinas Ränder sind 'verdorben' wie die Schale einer gequetschten Frucht, aber das Innere ist noch schmackhaft.“ [21]

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[22]  V. Segalen, René Leys, op. cit., 200 und 202

Aus Segalens bedingungsloser Verteidigung einer jeden Kultur und ihrer Unversehrtheit ist alleine seine politische Haltung zur bürgerlichen Revo­lution von 1911/12 zu erklären: gegen die Republik, für die Mandschu-Dynastie. Mit dem Sturz des Kaisertums, das Segalen vollkommen idealisierte (obwohl er sich dessen innerem Niedergang bewusst war), sah er die vollständige Europäisierung Chinas kommen, und entsprechend lässt er in seinem Roman René Leys den Franzosen Jarignoux aufatmen ange­sichts der Ausrufung der Republik: „Es macht Freude zu sehen, wie ein schönes, reiches Land sich der Vernunft des Fortschritts öffnet.“ Und die Auspizien verraten es auch den Chinesen: „Zeichen hat man am Himmel gesehen: einen Drachen ohne Kopf mit einem schwarzen Filzhut in Form einer Wassermelone, und eine gelbe, aus ihrem Panzer geschälte Schild­kröte, die einen europäischen Anzug trug.“ [22] Deswegen wandte sich Segalen der Vergangenheit Chinas zu, die er, ähnlich wie bei den Maori, künstlerisch in die Gegenwart zurückholen und die Schildkröte, Symbol der Erde und der Dauer, wieder wie früher zur Trägerin der Gedenksteine machen wollte. Deswegen auch geht Segalens archäologisches Interesse an der Ausgrabung der alten, von den zeitgenössischen Chinesen verges­senen Monumente mit der ästhetischen Rekonstruktion der geistigen Welt des alten China einher. Eine „Stele“, die dem in besonderer Weise gerecht wird, ist folgende:

Tisch der Weisheit

Stein - im Gebüsch versteckt, vom Schlick verzehrt,

von Rissen entweiht, von Würmern und

Fliegen bestürmt, jenen unbekannt, die

eilen, von dem verachtet, der anhält,

Stein - zu Ehren des vorbildlichen Weisen errichtet,

nach dem der Fürst überall suchen ließ

im Glauben an einen Traum,

aber den man nirgendwo entdeckte,

Außer an diesem Ort, wo die Übeltäter verweilen:

(vergessliche Söhne, rebellische Unter­tanen,

Leute, die jede Tugend beleidigen),

Unter denen er bescheiden lebte, um seine besser' zu verstecken.

 

[23] Victor Segalen, Stèles, herausgegeben und kommentiert von Henry Bouillier, Paris 1982, „Table de Sagesse“

 

 

[24] cf. Victor Segalen, Chine - la grande statuaire, Paris 1972; dieses Buch über die archäologische Seite von Segalens Chinareisen ist bei Qumran auf deutsch  erschienen. Zu  diesem   Thema  auch:   Günter Metken, Zwischen Wissenschaft und Fiktion - Victor Segalen als Archäologe, in: Akzente 4/1984.

 

 

 

 

 

[25] Außer der o.g. kommentierten Ausgabe der Stèles gibt es in Frankreich und den USA zahlreiche detaillierte Analysen der Bezüge zur chinesischen Literatur bei Se­galen, die hier im Einzelnen nicht aufgeführt werden können.

 

[26] zit. Brief an Manceron, in: Ästhetik..., op. cit., 79

Diese „Stele“ [23] ist die letzte, die von Segalen verfasst wurde, sie war für die zweite Ausgabe der auf 64 „Stelen“ erweiterten Sammlung bestimmt, die Segalen 1914 herausgab. An ihr lässt sich seine Vorgehensweise gut exemplifizieren. Von einer Anekdote bezüglich eines Traums des Kaisers U-ting (1324 -1266 v. Chr.) aus den chinesischen Geschichtsbüchern aus­gehend, hat Segalen in mehreren Versionen etappenweise den konkreten Bezug eliminiert und die Aussage verallgemeinert. Das im Feld unterge­hende Steinmonument - mit dem es Segalen auf seinen archäologischen Expeditionen stets zu tun hatte [24] - versinnbildlicht die Lage Chinas, wie Segalen sie vorfand, beziehungsweise, wie er sie wertete. Dem entspricht der Weise, der unerkannt unter dem gemeinen Volk lebt. Dass der Fürst nach ihm suchen lässt um ihn in seine Verwaltung zu berufen, ist nicht nur eine historische Vorlage für dieses Gedicht, sondern war in China immer wiederkehrende Praxis und dementsprechend auch ein Topos der Litera­tur. Das Thema des sich der Macht verweigernden Philosophen ist also sehr politisch. Am weitesten gingen darin die Taoisten mit ihrer radikalen Kritik an Staat und Zivilisation. Der chinesische Epigraph, den Segalen je­der „Stele“ beigesellt hat, bedeutet hier: „Niemand kennt ihn“. Es ist das wörtliche Zitat eines Textes über den taoistischen Philosophen Lie-tzu (Liä Dsü, 4. Jh. v. Chr. – nicht zu verwechseln mit Lao-Tse), der sich, ähnlich wie sein historischer Vorgänger, auf den das Gedicht anspielt, vierzig Jahre lang vor dem Fürsten und seinen Offizieren im Volk versteckte [25]. Man sieht also an diesem Beispiel - dessen Detailanalyse man natürlich noch viel weiter treiben könnte -, wie vielfältig und eng Segalen seine Dichtkunst mit der chinesischen Tradition verwoben hat. Natürlich wird dies dem normalen Leser nicht so bewusst, aber neben der denotativen In­formationsebene des Textes wird ihm durch die Form dieser „Stele“ unbe­wusst ein Stück China vermittelt. So hat Segalen zum Beispiel auch den letzten Satz des Gedichtes gezielt chiffriert, damit der Leser nach der Refe­renz des Wortes „seine“ sucht; in einer früheren Fassung stand noch: ,,... der seine Tugend versteckte“. Mit dem für den Leser zunächst überra­schenden Schluss bricht Segalen die gewohnte Lesehaltung auf und zwingt den Leser, auf der Bewusstseinsebene die Verbindung zwischen „seine“ und „Tugend“ herzustellen. Dieses Verfahren ähnelt den Rätseln, mit denen die taoistischen Philosophen und mehr noch die späteren Mei­ster des Zen ihre Schüler aus der gewohnten Denkhaltung herauslocken wollten. Selbst im kurzfristigen „Nicht-Verstehen“ des Gedichts, bzw. sei­nes Schlusses, liegt also bereits ein Stück Verstehen. In dieser Dichtung sind „die Grenzen zwischen dem chinesischen Reich und dem Reich des Ich fließend“ [26], die Referenzen auf die chinesische Tradition und die Form der Gedenksteine sind nicht Selbstzweck, sondern Angelpunkte für Segalens eigene Botschaft, die sich hinter dem unbe­stimmten lyrischen Ich der verschiedenen „Stelen“ verbirgt: man hört Mandarine, Philo­sophen, Chronisten und Kaiser sprechen, und zwischen ihnen, manchmal versteckt, manchmal offensichtlich, einen ideellen Dich­ter, durch dessen Mund Segalen selbst spricht. Es handelt sich also um eine Synthese zwischen dem Ich und dem Fremden; dass diese Synthese keine „Chinoiserie“ ist, keine oberflächliche und verfälschende Adaption – we­der hier noch andernorts bei Segalen –, haben unter anderem asiatische Le­ser und Analytiker von Segalens Werk eindrucksvoll bestätigt.

 

[27]  Victor Segalen, Aufbruch in das Land der Wirklichkeit, Frankfurt/M. und Paris 1984, 8f.

Eine andere Synthese zwischen dem Ich und dem Fremden hat Segalen in seiner „Reise­literatur“ gefunden. Obwohl er dieses Genre von vorneherein für „suspekt“ hielt, muss man die literarischen Tagebücher seiner beiden Chinadurchquerungen 1909/10 und 1914 als solche bezeichnen. Den letzten Teil seiner „Feuilles de route“ von 1914 hat Segalen zu einer höhe­ren Stufe des Literarischen verarbeitet, wo nicht mehr nur die Reise, beziehungsweise deren letzte Etappe durch das Hochland von Setchuan, son­dern auch die Reflexion über die Reise Gegenstand der Beschreibung ge­worden ist. In Equipée (dt. Aufbruch in das Land der Wirk­lichkeit“] wollte Segalen aus den imaginären Gefilden seiner vorangegangenen dichte­rischen Arbeit wieder mit dem Greifbaren, dem Wirklichen kon­frontiert werden und eine Haltung des Reisenden entwickeln, die Phanta­sie und Realität nicht gegeneinander ausspielt, sondern dialektisch ver­knüpft.

„Dieses Buch versteht sich also nicht als das Gedicht einer Reise, noch als das Logbuch eines in die Ferne schweifenden Traumes. Dieses Mal, da der Widerstreit in den Augenblick des Handelns selbst hineingelegt wird, wo am Fuß des Berges nicht zwischen Dichter und Bergsteiger, auf dem Fluß nicht zwischen Schriftsteller und Seemann und in der Ebene nicht zwischen Maler und Feldmesser, noch zwischen Pilger und Topographen unterschieden werden soll, in dem Vorsatz, in ein und demselben Augen­blick den Jubel in den Muskeln, in den Augen, in den Gedanken, im Traum zu erfassen, kann es hier nur darum gehen, danach zu forschen, in welchen geheimnisvollen Höhlen des menschlichen Innern diese verschiedenen Welten sich verbinden und gegenseitig zur völligen Entfaltung bringen können.

Oder aber, ob sie sich tatsächlich schädlich sind, ob sie sich zerstören, bis sich gebieterisch die Wahl zwischen ihnen aufdrängt - ohne vorab zu be­stimmen, wer sie gewinnt -, und ob es nach der Rückkehr von diesem Auf­bruch in die Wirklichkeit auf das so verführerische Doppelspiel zu verzich­ten gilt, ohne das der lebendige Mensch nur mehr Leib oder nur mehr Geist ist.“ [27]

 

 

 

 

 

[28] Victor Segalen; Dieser Tag ganz und gar im Wirklichen (Aus den „Wegeblättern“ 1914), in: Akzente 4/August 1984, 353

 

 

 

[29]  Victor Segalen, Voyage au pays du réel, Ed. Le Nouveau Commerce, Paris 1980, 68. (Dieser Teil von Segalens Reisenotizen ist nicht identisch mit der unter [27] zitietien literarischen Fassung.)

 

 

 

 

 

[30]  V. Segalen, Aufbruch..., op. cit., 28f.

Segalen versucht auch als europäischer Reisender durch China, die chine­sische Landschaft in chinesischen Kategorien zu beschreiben, ihre Ele­mente in dialektische Paare aufzugliedern, in Berg und Fluß, Hochland und Ebene, ganz wie es sich in der chinesischen Sprache selbst niederge­schlagen hat: “Wenn die Chinesen 'Landschaft' ausdrücken, sagen sie chanchuei, Gebirge und Gewässer. Das ist wahr. Das ist da“, hält er in sei­nem Reisetagebuch fest [28]. So richtet sich Segalens topographische Er­fahrung zwangsläufig gegen die Gewohnheiten der europäischen Geo­graphen und Forschungsreisenden, in deren Berichten das Land in Zahlen und Begriffen eingeteilt wird. Segalens Blick in den Raum, den er be­schreibt und gleichsam beschreibend malt, ist dem geschulten, besitzer­greifenden, naturwissenschaftlichen Blick des Europäers und der „Grob­heit der Topographie“ geradezu entgegengesetzt, deren Schein-Objekti­vität Segalen immer wieder kritisiert:

„Das mit Träumen reich bevölkerte Unbekannte in Bekanntes umsetzen! Legendäre Gipfel durch das Metermaß ersetzen! Die reine Luft der hohen Grate durch den Höhenmesser aufwiegen! Und wofür? Nicht einmal, um dem künftig vorbeikommenden Reisenden von Nutzen zu sein. Denn ein Kilometer bedeutet hier gar nichts. (...) Nur das li ist geschmeidig genug.“ [29]

Dieses chinesische Wegemaß, das li, misst die Wegstrecke über die dazu erforderliche Zeit und passt sich somit der Landschaft an. In ähnlicher Wei­se verfährt Segalen, wenn er die Landschaft über seine Eindrücke be­schreibt, seine Wahrnehmung ästhetisiert und dabei versucht, alle Sinne in einer synästhetischen Wahrnehmung zu vereinigen: Er spürt die Welt un­ter seinen Füßen in dem Moment, wo er sie auch sieht, sein Gewicht ändert sich nicht nur mit der Steigung der Strecke, sondern auch mit der Fülle des Wahrgenommenen, der „plénitude“, die bei Segalen nicht nur eine Emp­findung, sondern ein überwältigender Zustand von Trunkenheit ist, ein „Höhenrausch“ im doppelten Sinne, der die Grenze zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit niederreißt:

„Der Blick über den Paß hinweg ist nichts anderes als ein kurzer Blick; - aber so gesättigt mit Fülle, daß man den Triumph in den Wörtern, die ihn aussprechen, nicht trennen kann vom Triumph in den gesättigten Mus­keln, das Geschehene nicht von dem Eingeatmeten. Ein Augenblick -ja, der aber alles umfaßt. (...) Ein magischer Augenblick: das Hindernis ist ge­fallen. Man behandelt die Schwerkraft von oben herab. Der Berg ist erstie­gen, die Mauer geschleift. Der umschränkte Ort hat plötzlich keine ande­ren Schranken mehr als die fiktive Verlängerung des Horizonts. Würdevoll sind zwei Hänge zur Seite gewichen, um in einem bis zu den Grenzen rei­chenden Dreieck den Hintergrund einer Hinterwelt zum Vorschein kom­men zu lassen.“ [30]

 

[31]  Victor Segalen, Peintures, Gallimard, Paris 1983, „Paysage“, 45

 

 

 

 

 

 

[32] cf. Princesse Marsi Paribatra, Victor Segalen - Un exotisme sans mensonge, in: Revue de littérature comparée, Oct.-Déc. 1956, 500

[33] Victor Segalen, Présentation de „Peintures“, in. Den., Stèles, Peintures, Equi-pee, Annexes, Ed. Club du Meilleur Livre, Paris 1955, 564

Wie bei den „Stelen“ wäre es auch hier vermessen, über kurze Auszüge ei­nen wirklichen Einblick in Segalens Reise-Buch vermitteln zu wollen, das den Leser Kapitel für Kapitel in das Fremde und die ungewohnte Sicht da­rauf initiiert. Es ist die Initiation in eine in Worte gefasste Landschaftsmale­rei, welche auch die Landschaft nicht als tote Materie, sondern als belebtes Wesen betrachtet; je mehr Segalen in die Begegnung mit dieser Land­schaft und ihren Bewohnern eintaucht, desto deutlicher werden die Ge­sichter der Menschen selbst zu Land­schaften und die Landschaft ihrerseits zum Gesicht eines Makanthropen, dessen Archetyp das mythische Urwesen P'an-ku (alte Schreibweise) ist, der Demiurg, der die Welt schuf, indem er, der einst so groß war, dass er Himmel und Erde verband, sich schließlich selbst opferte: aus seinem Körper entstanden Berge, Flüsse, Meere, Vegetation und Gestirne. „Genau betrachtet ist die Landschaft nichts anderes als die von den Sinnen durchbrochene Haut eines riesigen menschlichen Gesichts.“ [31] Diese Vision von der Belebtheit der Natur, die die Tradition der chinesi­schen Landschaftsmalerei verinnerlicht hat, nimmt Segalen auf und ver­vollkommnet sie in seinen Peintures (erschienen 1916). Diese „erzählten Gemälde“ sind ein einzigartiges Phänomen in der Literaturgeschichte. Se­galen fuhrt darin seine „geistige Karawane“ auf eine neue Reise, weg von der Konfrontation mit dem Wirklichen und Gegenwärtigen, zurück zum Imaginären und Vergangenen. Die Beschreibung dieser Gemälde führt den Leser in eine imaginäre Landschaft ein. Die Augen des Lesers werden durch diese Landschaft geführt, wie die Augen des Betrachters suchend über ein Bild gleiten. Im Gegensatz zur abendländischen Malerei bietet sich nicht sofort eine Zentralperspektive an, die Elemente des Bildes, gera­de auch die Menschen, werden von der immensen Weite des Dargestell­ten absorbiert, sie sind Teil des Ganzen, Teil der Landschaft, Teil der Na­tur. Die Themen der Peintures lehnt Segalen ebenso an die chinesische Tradition und Geschichte an wie bei seinen Stèles, ohne die Vorgaben einfach zu imitieren. Zu einem guten Teil sind es auch von Segalen erfun­dene Bilder, aber im chinesischen Stil erfunden. „Sogar wenn Segalen träumt, träumt er chinesisch“, kommentierte einmal eine asiatische Lese­rin Segalens Exotismus [32]. Sich auf diese fiktiven Gemälde einzulassen, auf ihre in mehrfacher Weise andere Ästhetik, erfordert mehr denn je bei der Rezeption Segalens, dass sich der Leser einem fremden Denken öffnet und die gewohnte Vorstellung der abendländischen (Rezeptions- und Produktions-) Ästhetik, die Trennung zwischen dem visuellen (abgebilde­ten) Raum und dem fiktiven (erzählten) Raum hinter sich lässt. „Die in die­sem Buch eingenommene literarische Form ist neu“, schrieb Segalen in einer zu Lebzeiten unveröffentlichten Präsentation seines Buches. „Durch einen deutlichen Bruch mit der Vorgehensweise eines Romans, wo Personen in Dialog treten oder zu leben vorgeben, zur Freude oder zur Langeweile des Lesers, geht der Autor hier auf den Leser, oder zumindest den 'Betrachter', zu und macht ihn zum 'Komparsen', zum 'Komplizen'. Es gibt ein wechsel­seitiges Echo.“ [33]

 

[34]  V Segalen, Peintures (1983), 10ff.

 

 

 

 

 

 

 

 

[35]  V. Segalen, Ästhetik..., op. cit., 41

 

[36] a.a.O., 44

 

[37] a.a.O., 93

In der Einleitung zum Buch wird der Leser auf diese neue Lektüre vorbe­reitet:

„(...) Und ganz bestimmt, rechnen Sie mit keinem vorgesehenen 'Effekt'; keines der flüchtigen Trugbilder, womit die abendländische 'Perspektive' spielt und gesichert entscheidet, ob sich die Parallelen im Unendlichen schneiden oder nicht... (im recht mäßigen Unendlichen, das zwei Striche auf einem Punkt aufspießen) - oder ob die gezeichneten Personen eineDi-mension im Raum einnehmen oder zwei oder drei... (ach! überlassen wir das dem guten Maßschneider!).

Meine Rolle Ihnen und diesen Gemälden gegenüber ist eine andere, näm­lich die, Sie nur sehen zu lassen. Es sind gesprochene Gemälde. (...) Lassen Sie sich also durch dies überraschen, was kein Buch ist, sondern ein Spruch, ein Aufruf, eine Beschwörung, ein Schauspiel. Und Sie werden bald damit einig gehen, daß sehen, wie es hier verstanden wird, heißt, an der Zeichenbewegung des Malers teilzunehmen, heißt, sich irrt ausgemal­ten Raum zu bewegen, heißt, sich in jede der gemalten Handlungen hinein­zuversetzen.,,“ [34]

Reflexionen Segalens über seine eigene Arbeit und über eine Theorie des Exotismus sind im Vergleich zur Fülle seines in wenigen Jahren geschrie­benen oder entworfenen literarischen und wissenschaftlichen Werks spär­lich und fragmentarisch geblieben. Neben vielen Projekten, die Segalen begonnen hat, aber durch seinen frühen Tod im Alter von 40 Jahren nicht vollenden konnte, ist auch sein Essai sur l'Exotisme als eine „Esthétique du Divers“ – was soviel heißt wie „Ästhetik des Verschiedenen, Andersartigen“ – im Sta­dium der Konzeption geblieben. Neben mehreren Entwürfen für eine Ein­leitung, in der Segalen scharf mit der Kolonialliteratur abrechnet, enthält die Sammlung eine Reihe interessanter Reflexionen zum Teil aphoristi­schen Charakters sowie Auszüge aus Briefen. Die Ästhetik des „Diversen“ ist die Ästhetik des Anderen, die eine andere Wahrnehmung impliziert. Unter Exotismus versteht Segalen den „Begriff des Anders-Seins, die Wahrnehmung des Diversen, das Wissen, dass etwas nicht das eigene Ich ist, und die Fähigkeit (...), anders aufzufassen.“ [35] Diese andere Auffassung bereitet dem Leser von Segalens Literatur nicht selten Schwie­rigkeiten; darin liegt aber auch der Reiz, denn „der Exotismus ist (...) keine Anpassung (...). nicht das vollkommene Begreifen eines Nicht-Ich, das man sich einverleiben könnte, sondern die scharfe, unmittelbare Wahr­nehmung einer ewigen Unverständlichkeit.“ [36] Im Lesevorgang vollzie­hen wir Segalens Prozeß der Initiation in das Unverständliche nach und müssen dementsprechend unsere gewohnte Erwartungshaltung ändern, „nicht die Unverständlichkeiten beklagen, sondern sie im Gegenteil aufs höchste loben“. [37]

Exotismus“: Wahrnehmung des Anderen durch eine andere Wahr­nehmung

 

 

 

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Auf deutsch ist von Victor Segalen in den 80er Jahren eine unvollständige Werkausgabe bei Qumran (Frankfurt/M. und Paris) erschienen, später bei Fischer Taschenbuch reeditiert. Bei Suhrkamp (Frankfurt/M.) erschienen René Leys und bei Insel Die Unvordenklichen (Les Immémoriaux).

Eine Einführung in Biographie und Werk mit zahlreichen Textproben bietet das Schwer­punktheft der Akzente zu Victor Segalen (Heft 4/August 1984).

 

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Eine Aktualisierung des Editions- und Forschungsstandes zu Victor Segalen sowie weitere Analysen werden hier zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung gestellt.

 

 

W. Geiger